OLG Karlsruhe: Sorgerechtliche Maßnahmen bei Schulverweigerung

1. Auf die Beschwerde der Eltern wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Bad Säckingen vom 22.08.2022 in Ziffern 1 bis 3 des Tenors abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Den Eltern wird vorläufig das Gebot erteilt, ab Aufnahme des Kindes D. B., geboren 2010, in das Schulprojekt von O. in L. für eine regelmäßige Teilnahme des Kindes nach den Vorgaben dieser Einrichtung mit dem Ziel eines Übergangs des Kindes in den regulären Schulbesuch zu sorgen.

Im Übrigen sind derzeit vorläufig keine weiteren sorgerechtlichen Maßnahmen veranlasst.

2. Gerichtskosten im Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben; außergerichtliche Kosten im Beschwerdeverfahren werden nicht erstattet.

3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Eltern wenden sich mit ihrer Beschwerde gegen vorläufige Maßnahmen zur Erzwingung des Schulbesuchs im Rahmen des § 1666 BGB.

Die verheirateten Eltern sind gemeinsam sorgeberechtigt für ihren Sohn D. B., geb. 2010 (fast 13 Jahre alt). Er hat zwei deutlich ältere Geschwister (2002 und 2004 geboren). Die Mutter ist ausgebildete Erzieherin, hatte die letzten Jahre eine 20%-Stelle in einer KiTa. Diese hat sie zum Mai 2022 aufgegeben. Der Vater ist Werkzeugmacher und arbeitet als Konstrukteur. Die Familie bewohnt und bewirtschaftet einen Hof in einem Seitental im Schwarzwald, die beiden älteren Geschwister leben noch dort. Die Großeltern wohnen in einem separaten Haus auf dem Hof.

D. hatte zunächst die Grundschule besucht. Schon dort soll es zu Auffälligkeiten gekommen sein, Zwangshandlungen und Ängsten des Kindes. Nach Darstellung der Eltern sei D. zum Außenseiter geworden. Es gab regelmäßige Gespräche in der psychologischen Beratungsstelle (Frau B.), die zunächst mit der Coronapandemie endeten, im Mai 2021 wieder begannen und aktuell andauern (II 64).

In der Coronazeit im September 2020 wechselte er auf die Realschule in Z. Die Eltern besorgten ein Attest zur Befreiung von der Maskenpflicht, das von der Schule akzeptiert wurde, allerdings musste er, soweit Präsenzunterricht stattfand, an einem Einzeltisch sitzen. Als die Schule im Frühjahr 2021 wieder regulär zum Präsenzunterricht überging, blieb D. zu Hause, was zunächst von der Schule hingenommen wurde. Er erhielt von dort die Unterrichtsmaterialien. Die Schule gestattete dem Kind, ohne Test und Maske in der Schule die Klassenarbeiten zu schreiben (I 9). Im Zeugnis vom 28.07.2021 ergibt sich ein Durchschnitt von 1,7. Im Ergebnis hat das Kind seit Dezember 2020 nicht mehr am Präsenzunterricht teilgenommen.

Mit Beginn des Schuljahrs 2021/22 im September 2021 drängte die Schule auf ein Erscheinen des Kindes, die Übersendung von Materialien wurde eingestellt, auch eine Teilnahme an Klassenarbeiten erfolgte nicht mehr. Die Eltern verweigerten den Schulbesuch des Kindes mit Hinweis auf die geltende Test- und Maskenpflicht. Es wurde ein Antrag auf Befreiung vom Präsenzunterricht gestellt, das ärztliche Attest aber nur für wenige Sekunden vorgezeigt. Mittlerweile haben die Eltern das Attest („aus gesundheitlichen Gründen“) vorgelegt (II 61, 62). Die Eltern haben dargelegt, dass an Wochentagen zu Hause eine intensive Beschulung unter Aufsicht der Mutter erfolge. Dazu seien staatliche Schulbücher angeschafft worden.

Die Schule hat die Eltern mit vielen Schreiben aufgefordert, für den Schulbesuch zu sorgen. Am 04.10.2021 erstmals und dann wöchentlich wurden beim zuständigen Ordnungsamt Anträge auf Einleitung eines Bußgeldverfahrens gestellt. Daraufhin wurden in erheblichem Umfang Ordnungsgelder festgesetzt (I 7). Die Eltern berichten von 14 Bescheiden, die ergangen sind.

Auch das Jugendamt wurde von der Schule am 04.10.2021 informiert. Am 28.10.2021 wurde mit der Familie (Eltern und Kind) und der Schulleitung ein Gespräch beim Jugendamt geführt. Dieses führte zu keiner Lösung. Das Jugendamt äußerte, keine Maßnahmen ergreifen zu wollen, da eine Kindeswohlgefährdung nicht bestehe.

Mit Schreiben vom 26.01.2022 wandte sich die Schule daraufhin direkt an das Familiengericht (I 1). Die Eltern traten entgegen (I 203). Das Kind schrieb in einer „Willenserklärung“ (I 211): „Außerdem gilt die Schulpflicht nur für juristische Personen, aber ich bin ein Mensch.“

Zum Anhörungstermin vom 31.03.2022 erschien die Familie nicht (I 213). Sie hatte das Familiengericht aufgefordert, zum Nachweis der eigenen Legalität die Gründungsurkunde der Bundesrepublik Deutschland vorzulegen; das Familiengericht war dem nicht nachgekommen. Das Familiengericht hörte das Jugendamt an und bestellte einen Verfahrensbeistand.

In ihrem Schreiben vom 22.05.2022 (I 291) berichtete die Verfahrensbeiständin, dass die Familie den Kontakt mit ihr ablehne, da dies nicht dem freien Willen der Eltern und des Kindes entspreche. Am 01.06.2022 teilte die Verfahrensbeiständin dem Gericht mit (I 317), die Mutter habe ihr telefonisch erklärt, sie würde sich erst mit ihr treffen, wenn der Beschluss über die Bestellung als Verfahrensbeistand vom Richter persönlich unterschrieben und an sie zugestellt werde. Mit Datum vom 08.06.2022 übersandte der Familienrichter den Eltern einen solchen handschriftlich unterzeichneten Beschluss und bat in einem Begleitschreiben darum, nunmehr ein Gespräch mit der Verfahrensbeiständin zu führen (I 319). Die Eltern teilten mit Schreiben vom 11.06.2022 (I 323) mit, sie seien zu einem Gespräch mit der Verfahrensbeiständin nicht bereit. Es müsse den Menschen erlaubt sein, „in Eigen-Verantwortung ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen“. Die Eltern stellten die Frage, ob „der angebliche ‘Staat’ die Kontrolle und Herrschaft“ übernehmen wolle.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 22.08.2022 entzog das Familiengericht im Wege der einstweiligen Anordnung den Eltern vorläufig die elterliche Sorge für die Teilbereiche Aufenthaltsbestimmungsrecht, Entscheidungen in schulischen Angelegenheiten, sowie die Beantragung öffentlicher Hilfen und ordnete Ergänzungspflegschaft an. Außerdem ermächtigte es den Ergänzungspfleger, die Herausgabe des Kindes notfalls unter Einsatz von Gewalt und mittels Betreten und Durchsuchen der elterlichen Wohnung sowie unter Inanspruchnahme der Hilfe des Gerichtsvollziehers oder der Polizei durchzusetzen. Der Beschluss wurde den Eltern zugestellt am 09.09.2022 (I 345 ff.).

Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde der Eltern mit Schreiben vom 11.09.2022, eingegangen beim Familiengericht am 15.09.2022. Mit Verfügung vom 25.10.2022 wurde ein Anhörungstermin auf den 07.12.2022 festgesetzt.

Mit Bericht vom 25.11.2022 (II 91) teilte die Verfahrensbeiständin mit, dass sie das Kind am Tag zuvor habe kennenlernen dürfen. In der Psychologischen Beratungsstelle habe ein Termin stattgefunden, an dem außerdem die Eltern, die erwachsene Schwester des Kindes, ein Freund der Familie sowie die dortige Beraterin teilgenommen hätten. Dabei sei die Mutter tonangebend gewesen. Es sei deutlich geworden, dass das Kind sich eine kleine Schule wünsche mit wenigen Schülern, die ihm nichts wegnehmen und die nicht zu laut werden sollen. Es seien eher die sozialen Herausforderungen in der Schule, die das Kind verunsichern und überfordern würden und weniger der Unterricht und die kognitiven Anforderungen. Das Bildungsniveau des Jugendlichen sei angemessen gut.

Der Senat hat alle Beteiligten, auch das Kind, am 07.12.2022 angehört.

Dabei haben die Eltern mitgeteilt, dass D. voraussichtlich ab Februar 2023 in dem Schulprojekt von O. in L. aufgenommen werden könne als Vorbereitung auf den regulären Schulbesuch. Diese Maßnahme, für die dann die Schulpflicht ausgesetzt werde, wurde von der Verfahrensbeiständin, dem Jugendamt und der Ergänzungspflegerin befürwortet.

Nach der Anhörung teilte die Ergänzungspflegerin mit Schreiben vom 15.12.2022 mit, dass das Kind bei dem O. Schulprojekt in L. angemeldet und eine Aufnahme bis spätestens Februar 2023 in Aussicht gestellt sei. Die Eltern haben mit Schreiben vom 09.01.2023 erklärt, das Kind könne mit Bus und S-Bahn die Schule erreichen, und entsprechende Fahrpläne vorgelegt.

Zu den Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II.

Die Beschwerde der Eltern ist zulässig und aufgrund der mittlerweile erfolgten Entwicklung teilweise begründet.

A.

Das Schreiben der Eltern vom 11.09.2022 hat das Familiengericht zu Recht als Beschwerde gegen den Beschluss vom 22.08.2022 angesehen. Zwar ist entgegen § 64 Abs. 2 S. 3 FamFG der angefochtene Beschluss weder bezeichnet, noch die Erklärung der Beschwerdeeinlegung ausdrücklich erfolgt. Aus den Ausführungen der Eltern, die vor allem auf die Begründung des Beschlusses Bezug nehmen und die „angedrohten richterlichen Maßnahmen“ kritisieren, ist aber hinreichend deutlich, dass sie sich gegen diesen wenden und eine Überprüfung begehren.

Die Beschwerde ist statthaft nach § 57 S. 2 Nr. 1 FamFG. Das Familiengericht hat aufgrund mündlicher Erörterung entschieden. Die nach der mündlichen Verhandlung vom 30.03.2022 erfolgten Bemühungen um weitere Sachverhaltsaufklärung hatten keinen Erfolg.

Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.

B.

Die Beschwerde der Eltern ist aufgrund der mittlerweile eingetretenen Entwicklung teilweise begründet. Zwar hat das Familiengericht im angefochtenen Beschluss zu Recht festgestellt, dass der spätestens seit September 2021 unterbliebene Schulbesuch des Kindes eine Kindeswohlgefährdung darstellt. Nachdem die Eltern aber im Senatstermin vom 07.12.2022 zugesichert haben, zukünftig für den Schulbesuch des Kindes und die Vorbereitung hierfür mit dem O.-Projekt zu sorgen, und dies durch Vorlage eines Transportkonzeptes auch bekräftigt haben, ist nunmehr die Erteilung einer vorläufigen Auflage ausreichend, aber auch notwendig.

1. Zunächst hat das Familiengericht zu Recht eine Gefährdung des Kindeswohls im Haushalt der Eltern angenommen. Diese Gefährdung besteht auch weiterhin.

a. Gemäß § 1666 Abs. 1 BGB ist das Kindeswohl gefährdet, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes zu erwarten ist, wobei an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseinritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je schwerer der drohende Schaden wiegt (BGH vom 06.02.2019 – XII ZB 408/18, FamRZ 2019, 598, juris Rn. 18). Die – auch teilweise – Entziehung der elterlichen Sorge als besonders schwerer Eingriff kann daher nur bei einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes mit einer höheren – einer ebenfalls im Einzelfall durch Abwägung aller Umstände zu bestimmenden ziemlichen – Sicherheit eines Schadenseintritts verhältnismäßig sein (BGH, a.a.O., Rn. 33). Dabei gehört es nicht zum staatlichen Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG), für eine dem Kindeswohl bestmögliche Förderung zu sorgen (BVerfG vom 28.02.2012 – 1 BvR 3116/11, FamRZ 2012, 1127, juris Rn. 15; BVerfG vom 29.01.2010 – 1 BvR 374/09, FamRZ 2010, 713, juris Rn. 33 f.). Die Eingriffsbefugnisse des § 1666 BGB bezwecken auch nicht, dem Kind eine optimale oder auch nur durchschnittliche Erziehung und Entwicklung zu ermöglichen, sondern lediglich, nicht mehr vertretbare Gefahren und Schäden von ihm abzuwenden. Begrenzte persönliche und wirtschaftliche Möglichkeiten und Verhältnisse muss das Kind in gewissem Umfang als Schicksal und Lebensrisiko tragen (BVerfG vom 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14, FamRZ 2015, 112, juris Rn. 38; Staudinger/Coester, BGB, Neubearbeitung 2020, § 1666 Rn. 84 m.w.N.), denn vorrangig kommt den Eltern die Aufgabe und das Recht zu, Gefahren für die Entwicklung der Kinder abzuwehren. Eltern und Kinder haben grundsätzlich einen Anspruch darauf, mit und in der eigenen Familie zu leben und aufzuwachsen. Erst dann, wenn für das Kind bestehende Gefahren die oben genannte Schwelle überschreiten, dürfen zum Schutz des Kindes im Rahmen von §§ 1666, 1666a BGB gerichtliche Maßnahmen getroffen werden (BVerfG vom 29.01.2010 – 1 BvR 374/09, FamRZ 2010, 713, juris Rn. 35 m.w.N.).

Konkret für den Fall der Schulverweigerung gilt, dass das verfassungsrechtlich geschützte Erziehungsrecht der Eltern durch die allgemeine Schulpflicht beschränkt ist. Zu dieser Beschränkung ist der Gesetzgeber befugt. Diese dient als geeignetes und erforderliches Instrument dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Er richtet sich auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind (BVerfG vom 31.05.2006 – 2 BvR 1693/04, FamRZ 2006, 1094, juris Rn. 15 f.).

Die beharrliche Weigerung der Eltern, ihr Kind einer öffentlichen Schule oder einer anerkannten Ersatzschule zuzuführen, kann sich daher als ein Missbrauch der elterlichen Sorge darstellen, der das Wohl des betroffenen Kindes nachhaltig gefährdet und Maßnahmen des Familiengerichts nach §§ 1666, 1666 a BGB erfordert. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen insoweit weder gegen die Schulpflicht noch – im Grundsatz – gegen familiengerichtliche Maßnahmen, mit denen die Schulpflicht nach Maßgabe der §§ 1666, 1666a BGB durchgesetzt werden soll (BGH vom 17.10.2007 – XII ZB 42/07, FamRZ 2008, 45, juris Rn. 13; Senat vom 25.08.2022 – 5 UFH 3/22, FamRZ 2022, 1857, juris Rn. 28 f.; KG vom 15.07.2022 – 13 UF 67/22, FamRZ 2022, 1619, 1620; OLG Celle vom 02.06.2021 – 21 UF 205/20, FamRZ 2022, 111, juris Rn. 22 m.w.N.; OLG Nürnberg vom 15.09.2015 – 9 UF 542/15, FamRZ 2016, 564, juris Rn. 13; OLG Köln vom 02.12.2014 – 4 UF 97/13, FamRZ 2015, 675, juris Rn. 4; OLG Frankfurt a.M. vom 15.08.2014 – 6 UF 30/14, FamRZ 2014, 1857, juris Rn. 14).

Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit der höchstrichterlichen und der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung teilweise vertreten wird, dass bei hinreichender Wissensvermittlung und hinreichender Sorge für die körperliche, kognitive, sprachliche, emotionale und soziale Entwicklung des Kindes im Einzelfall durch Einholen eines Sachverständigengutachtens oder durch einen positiven Eindruck von dem Kind bei der gerichtlichen Anhörung eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB ausgeschlossen werden könne (in diese Richtung OLG Bamberg vom 22.11.2021 – 2 UF 220/20, FamRZ 2022, 252, juris Rn. 30; OLG Hamm vom 11.10.2019 – 3 UF 116/19, FamRZ 2020, 344, juris Rn. 7; OLG Düsseldorf vom 25.07.2018 – 2 UF 18/17, FamRZ 2019, 417, juris Rn. 7), überzeugt dies nicht. Denn nach den oben dargelegten verfassungsrechtlichen Grundlagen kann der Gesetzgeber insoweit in das Elternrecht eingreifen. Die allgemeine Schulpflicht dient nicht nur der Vermittlung von Wissen und sozialen Fertigkeiten, die möglicherweise auch im familiären Rahmen erlernt werden können. Vielmehr dient die Schulpflicht auch dem staatlichen Erziehungsauftrag und den dahinter stehenden Gemeinwohlinteressen. Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten “Parallelgesellschaften” entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschließen. Für eine offene pluralistische Gesellschaft bedeutet der Dialog mit solchen Minderheiten eine Bereicherung. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, ist eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Schule. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft kann die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern (BVerfG vom 31.05.2006 – 2 BvR 1693/04, FamRZ 2006, 633, juris Rn. 17 ff.).

Schulrechtliche Maßnahmen stehen neben den familiengerichtlichen Maßnahmen. Während verwaltungsrechtliche Maßnahmen der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht dienen, liegt der Schwerpunkt familiengerichtlicher Tätigkeit darauf, eine Gefährdung des Wohls des individuellen Kindes zu verhindern. Allein die Möglichkeit von schulrechtlichen Maßnahmen entbindet die Familiengericht nach Ansicht des Senats nicht von der Pflicht, eine Kindeswohlgefährdung zu prüfen. So können etwa bei – hier nicht in Frage stehender – körperlicher Misshandlung eines Kindes die Familiengerichte auch nicht auf die Durchsetzung der gewaltfreien Erziehung durch die Strafgerichte verweisen.

Die Gesellschaft kann Standards für das Aufwachsen von Kindern festlegen, die allgemeine Geltung beanspruchen, ohne dass sie in jedem Einzelfall gerechtfertigt und begründet werden müssen. Dies gilt beispielsweise auch für den Grundsatz der gewaltfreien Erziehung, bei dem der Einwand im Einzelfall („Meinem besonderen Kind schaden die Schläge nicht.“) für die Prüfung der Kindeswohlgefährdung nicht relevant wäre. Erst bei der Frage der Verhältnismäßigkeit von Eingriffsmaßnahmen sind die besonderen Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen.

b. Nach diesen Grundlagen bestehen hier zunächst ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls wegen des fehlenden Schulbesuchs.

Die Eltern haben über längere Zeit hinweg nicht für einen Schulbesuch des Kindes gesorgt, obwohl die von ihnen selbst formulierten Hinderungsgründe spätestens seit den Osterferien im April 2022 weggefallen sind. Soweit die Eltern Bedenken gegen die konkrete Schule geäußert haben, sind von Ihnen bis zum angefochtenen Beschluss keinerlei Schritte unternommen worden, die Beschulung an einer anderen Schule zu ermöglichen. Dies stellt eine Gefährdung für die oben dargestellte Entwicklung des Kindes zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit und die gleichberechtigte Teilhabe des Kindes an der Gesellschaft dar. Dies zeigt sich im vorliegenden Fall insbesondere an der sozialen Isolierung des Kindes. Konkrete soziale Kontakte des bald 13jährigen Jugendlichen zu Personen außerhalb des engsten Familienkreises sind nicht erkennbar.

Es besteht die konkrete Gefahr, dass die Eltern ohne Kindesschutzmaßnahmen auch weiterhin nicht ausreichend für den Schulbesuch des Kindes sorgen. Sie haben, nachdem sie lange Zeit die Legitimation staatlichen Handelns in dieser Sache ganz grundsätzlich in Frage gestellt hatten, erst unter dem Eindruck des angefochtenen Beschlusses und in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem angesetzten Anhörungstermin in Beschwerdeverfahren erstmals zwei Schulen angeschaut. Auch im Termin sprach die Mutter immer noch misstrauisch von einer „Schulgebäudeanwesenheitspflicht“, womit sie die staatliche Schulpflicht meinte. Ein ausreichendes Bewusstsein der Eltern für die oben dargelegte Bedeutung der Erfüllung der Schulpflicht für die autonome Entwicklung des Jugendlichen besteht daher derzeit noch nicht.

c. Außerdem gibt es im vorliegenden Fall weitere Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Eltern. Diese berichteten von seit Jahren bestehenden Ängsten und Zwangshandlungen des Jugendlichen, der mit seiner Familie weitgehend isoliert, fast abgeschirmt lebt, im Zusammenhang mit dem Schulbesuch. Dies wurde vom Jugendlichen in seiner Anhörung durch den Senat und auch durch den Bericht der psychologischen Beratungsstelle bestätigt. Eine Diagnostik, auch zu den Ursachen hierfür, ist diesbezüglich aber offenbar zu keinem Zeitpunkt erwogen worden, obwohl diese Verhaltensweisen des Jugendlichen nach Angaben der Eltern mittlerweile so zwanghafte Züge angenommen haben sollen, dass sie der eigentliche Grund seien, warum kein Besuch einer Schule mehr in Betracht komme. Dies konnte im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren nicht geklärt werden, auch nicht, inwieweit dies überhaupt zutrifft. Die Schule hatte gegenüber der Verfahrensbeiständin von einem unauffälligen, integrierten Kind berichtet, solange er dort die Schule besuchte. Die nach Angaben der Eltern bereits damals bestehenden massiven Ängste und Zwangshandlungen sind dort niemandem aufgefallen.

2. Auf der Grundlage dieser weiterhin bestehenden Kindeswohlgefährdung ist aufgrund der aktuellen Entwicklung ausreichend, aber auch notwendig, den Eltern eine Auflage zu erteilen.

a. Da in das nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG den Eltern gewährleistete Recht auf Erziehung nur unter strenger Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden darf (BVerfG vom 21.09.2020 – 1 BvR 528/19, FamRZ 2021, 104, juris Rn. 30 m.w.N.), dürfen den Eltern nicht mehr Rechte entzogen werden, als es zur Abwehr der Gefahr erforderlich ist. Die getroffenen Maßnahmen müssen zur Beseitigung der dem Kind drohenden Gefahren geeignet sein und müssen zu Art und Umfang der Gefahren in einem angemessenen Verhältnis stehen. Das gilt insbesondere für eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen, da diese den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht darstellt (BVerfG vom 22.09.2014 – 1 BvR 2108, FamRZ 2015, 208, juris Rn. 15 f.; OLG Dresden vom 08.12.2014 – 23 UF 633/13, FamRZ 2015, 676, juris Rn. 3). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass der Staat nach Möglichkeit versuchen muss, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (BVerfG vom 29.01.2010 – 1 BvR 374/09, FamRZ 2010, 713, juris Rn. 35 m.w.N.).

Im Fall der Schulverweigerung kann der teilweise Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und des Rechts zur Regelung von Schulangelegenheiten dem Missbrauch der elterlichen Sorge durch die Eltern entgegenwirken. Dabei kann es naheliegen, dass ein Ergänzungspfleger – wie im Beschluss des Familiengerichts auch geschehen – ermächtigt wird, die Herausgabe des Kindes notfalls unter Einsatz von Gewalt und mittels Betreten und Durchsuchung der elterlichen Wohnung sowie unter Inanspruchnahme der Hilfe des Gerichtsvollziehers oder der Polizei zu erzwingen. Allerdings ist in jedem Verfahrensstadium zu prüfen, ob mildere Mittel, das Kind vor dem Missbrauch der elterlichen Sorge wirksam zu schützen und den staatlichen Erziehungsauftrag im wohlverstandenen Kindesinteresse durchzusetzen, zur Verfügung stehen (vgl. BGH vom 17.10.2007 – XII ZB 42/07, FamRZ 2008, 45, juris Rn. 15).

b. Nach diesen Grundsätzen ist auf Grundlage des aktuellen Sachstands die angeordnete Maßnahme einer Auflage geeignet und erforderlich.

Die Eltern haben erklärt, dem Kind die regelmäßige Teilnahme an dem Schulprojekt O. in L. zu ermöglichen. Diese Maßnahme stellt zwar keinen Schulbesuch im Sinne der oben dargestellten Schulpflicht dar. Sie soll aber das Kind für den Übergang in den Regelschulbetrieb vorbereiten und es dabei begleiten. Dies stellt nach überzeugend begründeter Ansicht von Verfahrensbeiständin, Jugendamt und Ergänzungspflegerin einen geeigneten und wohl auch erforderlichen Schritt auf diesem Weg dar.

Damit erscheint in der vorzunehmenden Abwägung einerseits die vom Familiengericht – noch auf der Grundlage einer völligen Verweigerung der Eltern – angeordnete Entziehung von Teilen der elterlichen Sorge derzeit nicht mehr erforderlich. Damit bedarf es keiner Entscheidung, ob die vom Familiengericht vorgenommene vorläufige Entziehung des gesamten Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht ohnehin auf die Zeiten des Schulbesuchs als erforderliche und verhältnismäßige Maßnahme hätte beschränkt werden müssen.

Andererseits gibt es weiterhin nicht unerhebliche Zweifel an einer ausreichenden Kooperationsbereitschaft der Eltern. Bereits bei der Frage, in welchem Umfang der Besuch des O.-Projekts sinnvoll ist, gab die Mutter zu erkennen, dass sie eigene Vorstellungen (zunächst nur zweimal pro Woche hat). Da bereits in der Vergangenheit die Wahrnehmung der Interessen und Bedürfnisse des Kindes durch die Eltern von der Wahrnehmung des Kindes durch die Schulen abwich, könnte es hier zu Konflikten kommen. Daher ist die Erteilung der Auflage erforderlich und unter Abwägung der Schwere des Eingriffs in das Elternrecht auch verhältnismäßig.

c. Weitergehende vorläufige Maßnahmen hinsichtlich der Anhaltspunkte für eine Gefährdung der seelischen Gesundheit des Jugendlichen im Haushalt der Eltern sind im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren nicht verhältnismäßig. Dabei wurde berücksichtigt, dass durch die individuelle Betreuung des Kindes im Rahmen des O.-Schulprojektes in besonderer Weise auf die möglichen Ängste und Zwangshandlungen des Kindes eingegangen werden kann.

3. Es besteht ein dringendes Bedürfnis für die getroffene Maßnahme.

a. Gemäß § 49 Abs. 1 FamFG kann durch einstweilige Anordnung eine vorläufige Maßnahme getroffen werden, soweit dies nach den für das Rechtsverhältnis maßgebenden Vorschriften gerechtfertigt ist und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht. Ein derartiges Regelungsbedürfnis ist anzunehmen, wenn ein Zuwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht ohne Eintritt erheblicher Nachteile möglich wäre, das heißt die zu schützenden Interessen nicht gewahrt würden (Musielak/Borth/Frank/Borth, Familiengerichtliches Verfahren, 7. Auflage 2022, § 49 FamFG Rn. 3).

b. Da hier der Schulbesuch seit langer Zeit ausgesetzt ist und es dem Jugendlichen in seiner sozialen Isolation ersichtlich nicht gut geht, kann der Ausgang eines Hauptsacheverfahrens nicht abgewartet werden.

4. Das Familiengericht und das Jugendamt werden gebeten, die Einhaltung der erteilten Auflage zeitnah (nach einigen Wochen, spätestens nach zwei Monaten) und dann in regelmäßigen Abständen zu überprüfen.

Sollte eine Anbahnung des Schulbesuches und dessen Sicherstellung nicht gelingen, wäre seitens des Familiengerichts zum einen im vorliegenden einstweiligen Anordnungsverfahren gem. § 54 Abs. 1 FamFG zu prüfen, welche weiteren vorläufigen sorgerechtlichen Maßnahmen zu treffen sind.

Zum anderen wäre voraussichtlich zeitnah in einem Hauptsacheverfahren durch Einholung eines Sachverständigengutachtens den Gründen für die Schulverweigerung des Kindes sowie für die dargestellten Ängste und Zwangshandlungen und der Frage, mit welchen Maßnahmen darauf zu reagieren ist, nachzugehen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 FamFG; sie entspricht der Billigkeit.

Die Festsetzung des Verfahrenswerts ergibt sich aus §§ 40, 41, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.01.2023
5 UF 188/22

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