BVerfG: Umgangsausschluss bei sexuellem Missbrauch

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

des Herrn (…), – Bevollmächtigte: (…) –

gegen

a) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 24. November 2022 – 26 UFH 10/22 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts München vom 24. Februar 2022 – 512 F 1861/22 –

und

Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Britz und die Richter Christ, Radtke

gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 20. Januar 2023 einstimmig  beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den vorläufig angeordneten vollständigen Ausschluss des Umgangs des Beschwerdeführers mit seinen beiden Töchtern.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Vater von im Dezember 2012 sowie im September 2016 geborenen Töchtern, die aus der Ehe mit der Mutter der Kinder hervorgegangen sind. Die Töchter leben seit der 2019 erfolgten Trennung der Eltern bei der Mutter. Diese hat das Sorgerecht allein inne.

2. a) Das Familiengericht traf in einem Hauptsacheverfahren zum Umgang eine Umgangsregelung. Dagegen legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein, über die jedenfalls bis zum Ergehen des hier angegriffenen Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 24. November 2022 noch nicht entschieden war.

b) Im gegenständlichen Ausgangsverfahren beantragte die Mutter, den Umgang des Beschwerdeführers mit den Töchtern wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs zu dessen Lasten auszuschließen. Gegen den Beschwerdeführer wurde aufgrund dieses Verdachts ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, das derzeit noch nicht abgeschlossen zu sein scheint. Das Jugendamt regte ebenfalls eine sofortige Aussetzung des Umgangs an. Mit angegriffenem Beschluss vom 24. Februar 2022 schloss das Familiengericht dem folgend im Wege der einstweiligen Anordnung den Umgang des Beschwerdeführers mit seinen Töchtern aus und untersagte diesem unter anderem, sich dem Haus der Mutter sowie weiteren im Einzelnen benannten Orten zu nähern.

c) Erstmals im März 2022 beantragte der Beschwerdeführer bei dem Oberlandesgericht im Wege einstweiliger Anordnung unter anderem, zumindest begleitete Umgänge mit seinen Töchtern sowie Telefon- und Briefkontakte zuzulassen. Nachdem das Oberlandesgericht die Beteiligten einschließlich der Töchter angehört hatte, wies es den Antrag in dem angegriffenen Beschluss vom 24. November 2022 zurück und hielt die Entscheidung des Familiengerichts vom 24. Februar 2022 aufrecht.

3. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Entscheidungen in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG und in Art. 8 EMRK verletzt. Mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung möchte er vor allem erreichen, dass er vorläufig begleiteten Umgang mit seinen Töchtern sowie Telefon- und Briefkontakt erhält.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen; Annahmegründe (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor.

1. Soweit der Beschwerdeführer sich gegen den ohne mündliche Verhandlung ergangenen Beschluss des Familiengerichts vom 24. Februar 2022 wendet, ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass er dadurch noch beschwert sein könnte. Die Entscheidung ist durch den nach mündlicher Verhandlung (vgl. § 54 Abs. 2 FamFG) ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts vom 24. November 2022 prozessual überholt, so dass es insoweit am Rechtsschutzbedürfnis fehlt.

2. Der in diesem Beschluss angeordnete vorläufige Umgangsausschluss hält den daran zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen noch stand. Das gilt auch für den Ausschluss begleiteter Umgänge des Beschwerdeführers mit seinen beiden Töchtern. Der Beschwerdeführer ist nicht in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.

a) Eine Einschränkung oder ein Ausschluss des von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Umgangsrechts ist nur veranlasst, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner seelischen oder körperlichen Entwicklung abzuwehren (vgl. BVerfGE 31, 194 <209 f.>). Entsprechend kann nach § 1684 Abs. 4 Satz 2 BGB eine Einschränkung oder ein Ausschluss des Umgangs für längere Zeit angeordnet werden, wenn anderenfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre. Das Gericht hat bei der Entscheidung über die Einschränkung oder den Ausschluss des Umgangs sowohl die betroffenen Grundrechtspositionen des Elternteils als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger zu berücksichtigen. Um dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dabei Rechnung zu tragen, müssen die Fachgerichte jedenfalls bei einem länger andauernden oder einem unbefristeten Umgangsausschluss ‒ insoweit nicht grundlegend anders als bei dem Entzug des Sorgerechts auf der Grundlage von § 1666 BGB ‒ grundsätzlich die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret benennen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Mai 2022 – 1 BvR 326/22 -, Rn. 13 m.w.N.).

b) Dem ist das Oberlandesgericht, wenn auch ohne die fachrechtlichen Grundlagen seiner Entscheidung zu benennen, noch ausreichend gerecht geworden. Eine drohende Kindeswohlgefährdung bei jeglichem Kontakt des Beschwerdeführers stützt es sowohl auf den weiterhin im Raum stehenden Verdacht des sexuellen Missbrauchs jedenfalls zu Lasten seiner älteren Tochter sowie auf den unter anderem in der Anhörung vor dem Oberlandesgericht und gegenüber der Verfahrensbeiständin geäußerten Willen beider Töchter, derzeit keinen Kontakt mit dem Beschwerdeführer haben zu wollen. Die dem zugrunde liegenden Feststellungen und die darauf gestützte Abwägung beruhen nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts (vgl. zum Maßstab BVerfGE 18, 85 <92 f.>).

aa) Dabei ist zu berücksichtigen, dass in fachgerichtlichen einstweiligen Anordnungsverfahren angesichts der spezifischen Eilbedürftigkeit dieser Verfahren die praktisch verfügbaren Aufklärungsmöglichkeiten regelmäßig hinter den im Hauptsacheverfahren bestehenden Möglichkeiten zurückbleiben (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. September 2015 – 1 BvR 1292/15 -, Rn. 19). Die Gefährdungslage muss sich aber auch insoweit nach Ausmaß und Wahrscheinlichkeit derart verdichtet haben, dass ein sofortiges Einschreiten auch ohne weitere gerichtliche Ermittlungen geboten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juli 2017 – 1 BvR 1202/17 -, Rn. 19). Nicht anders als im Hauptsacheverfahren muss auch im einstweiligen Anordnungsverfahren bei der damit erforderlichen Prognose von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohl geschlossen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2022 – 1 BvR 1807/20 -, Rn. 45 m.w.N.).

Sollte sich das insbesondere von seiner älteren Tochter in einigen Anhörungen beziehungsweise Vernehmungen geschilderte Verhalten des Beschwerdeführers ihr gegenüber bestätigen, gingen damit schon wegen des beschriebenen Körperkontakts mit Sexualbezug schwerwiegende Beeinträchtigungen ihres Kindeswohls einher. Dass ausweislich der mit der Verfassungsbeschwerde vorgelegten Unterlagen ihr diesbezügliches Aussageverhalten nicht durchgängig konstant war, stellt wegen der für den Fall zutreffender Angaben über Kontakt mit dem Geschlechtsteil des Beschwerdeführers gravierenden Kindeswohlgefährdung die Tragfähigkeit der Prognose nicht in Frage. Da auch für die jüngere Tochter – wohl von ihr ausgehender – Kontakt mit dem Geschlechtsteil des Beschwerdeführers beschrieben wird, hat eine ihr drohende Kindeswohlgefährdung bei unmittelbarem Umgang mit dem Vater ebenfalls eine für das einstweilige Anordnungsverfahren ausreichende Grundlage.

bb) Derzeit erweist sich auch der Ausschluss begleiteter Umgänge und jeglichen Kontakts zu den Töchtern als noch verhältnismäßig. Unter Berücksichtigung der im einstweiligen Anordnungsverfahren aus Zeitgründen eingeschränkten Möglichkeiten der Sachaufklärung und der Schwere der im Raum stehenden Vorwürfe beruht die Annahme des Oberlandesgerichts, den Töchtern sei jeglicher Kontakt zum Beschwerdeführer nicht zuzumuten, gleichfalls nicht auf einer grundlegenden Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Soweit das Oberlandesgericht sich dafür zudem auf den jeglichen Umgangskontakt ablehnenden Willen beider Kinder stützt, ist das verfassungsrechtlich jedenfalls in Bezug auf die ältere, jetzt zehnjährige Tochter nicht zu beanstanden. Damit wird dem im Recht auf Selbstbestimmung des Kindes wurzelnden, mit dem Alter in der Bedeutung zunehmenden Anspruch auf Berücksichtigung des Kindeswillens Rechnung getragen (vgl. zum Maßstab BVerfGK 15, 509 <515>). Ob der Ausschluss jeglichen Umgangs und Kontakts auch mit der jüngeren Tochter maßgeblich auf ihren entsprechenden Willen gestützt werden kann, bedarf keiner Entscheidung. Auf der Grundlage des derzeitigen Erkenntnisstandes verletzt die Entscheidung des Oberlandesgerichts das Elternrecht des Beschwerdeführers auch insoweit nicht, weil der Ausschluss ohne Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG bereits durch die auf dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs beruhende drohende Kindeswohlgefährdung derzeit noch tragfähig gestützt ist.

c) Da allerdings der Beschwerdeführer seit nunmehr gut elf Monaten keinen Umgang mit und keinen Kontakt zu seinen Töchtern hat, wird das Oberlandesgericht – wie im angegriffenen Beschluss angekündigt – dafür Sorge tragen müssen, zügig zu einer Hauptsacheentscheidung zum Umgang zu gelangen. Bis dahin bedarf es angesichts bislang noch ungesicherter Erkenntnisse über das Vorliegen von sexuellem Missbrauch einer regelmäßigen Überprüfung, ob der einstweilige Umgangsausschluss aufrechterhalten oder verändert werden muss. Auch bei möglichen weiteren Entscheidungen im einstweiligen Anordnungsverfahren ist zu beachten, dass – im Rahmen des in diesem Verfahrenstypus Möglichen – die den Kindern drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen sind.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

4. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Britz, Christ, Radtke

BVerfG, Beschluss vom 20.01.2023
1 BvR 2345/22

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