Geschwister

BVerfG: Trennung minderjähriger Kinder von sorgeberechtigtem Elternteil setzt akute Kindeswohlgefährdung voraus

Der Beschluss des Amtsgerichts Landau in der Pfalz vom 19. Juni 2013 – 1 F 287/12 – und der Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 8. November 2013 – 2 UF 106/13 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes und werden aufgehoben.

Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Das Land Rheinland-Pfalz hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 12.500 € (in Worten: zwölftausendfünfhundert Euro) festgesetzt.
Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerin wendet sich – gleichzeitig im Wege des Eilantrags – gegen den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und des Rechts zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung für ihre beiden in den Jahren 2009 und 2011 geborenen jüngsten Kinder.

1. a) Die Beschwerdeführerin ist Mutter von fünf Kindern. Ihre älteste, nichteheliche Tochter ist bereits volljährig und wohnt nicht mehr im mütterlichen Haushalt. Aus einer mittlerweile rechtskräftig geschiedenen Ehe sind zwei weitere Kinder, geboren 2001 und 2004, hervorgegangen, die nach Trennung und Scheidung zunächst in der Obhut der Beschwerdeführerin lebten. Nach der Scheidung wurde die Beschwerdeführerin 2009 und 2011 Mutter der beiden hier betroffenen Kinder, die zunächst ebenfalls in der Obhut der Mutter aufwuchsen.

Seit 2009 erhielt die Familie Erziehungshilfen in Form von sozialpädagogischer Familienhilfe. Dabei waren nacheinander zwei verschiedene Träger im Einsatz. Da diese familienunterstützende Maßnahme nicht ausreichte, erhielt die Familie zusätzlich eine ambulante flexible Hilfe durch eine Hauswirtschafterin. Die Hilfen wurden vom Kreisjugendamt zum 1. Januar 2013 eingestellt.

Im Jahr 2010 durchlitt die Beschwerdeführerin eine mehrmonatige mittelgradige depressive Episode. Diese führte im Jahr 2010 zu einer parasuizidalen Tabletteningestion, in deren Folge die Beschwerdeführerin unterschiedliche medizinische, psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen stationärer und ambulanter Art erfuhr.

Mit Schriftsatz vom 6. November 2012 beantragte der geschiedene Ehemann die Übertragung der elterlichen Sorge für die beiden gemeinsamen Kinder auf sich. Das Kreisjugendamt beantragte am 12. November 2012 die Einleitung eines Verfahrens gemäß § 1666 BGB bezüglich der vier minderjährigen Kinder der Beschwerdeführerin. Mit Schreiben vom 27. Februar 2013 beantragte das Kreisjugendamt die Anordnung familiengerichtlicher Eilmaßnahmen. Die Situation der betroffenen Kinder habe sich deutlich verschlechtert, so dass nun ein akuter Handlungsbedarf bestehe. Durch gerichtliche Vereinbarung vom 27. März 2013 einigten sich die Eltern darauf, dass der Sohn der geschiedenen Eheleute bis auf Weiteres beim Vater lebt.

b) Mit Beschluss vom 27. März 2013 entschied das Amtsgericht nach Anhörung der Kinder sowie nach Anhörung unterschiedlicher professionell Beteiligter, von familiengerichtlichen Maßnahmen im Wege der einstweiligen Anordnung abzusehen.

c) Mit Beschluss vom 17. Juni 2013 übertrug das Familiengericht die elterliche Sorge für die beiden gemeinsamen Kinder gemäß § 1671 Abs. 1 BGB auf den Vater. Auch die gemeinsame Tochter zog daraufhin zum Vater. Nach persönlicher Anhörung der Beteiligten durch den Senat nahm die Beschwerdeführerin ihre gegen den amtsgerichtlichen Beschluss eingelegte Beschwerde auf Empfehlung des Oberlandesgerichts mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2013 zurück.

d) Durch angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts vom 19. Juni 2013 wurde – nach Einholung eines Sachverständigengutachtens – der Beschwerdeführerin die elterliche Sorge für die beiden bei ihr verbliebenen Kinder hinsichtlich der Teilbereiche Aufenthaltsbestimmung und Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen entzogen und auf das Kreisjugendamt als Ergänzungspfleger übertragen. Das Kindeswohl sei aufgrund (unverschuldeten) Versagens der Mutter im Fall eines weiteren Wohnens im mütterlichen Haushalt gefährdet.

Das Gericht stützte sich dabei ausdrücklich im Wesentlichen auf die Erkenntnisse der Sachverständigen: Diese kämen zu dem Ergebnis, dass eine Fremdunterbringung sinnvoll sei, um den beiden Kindern die Chance auf eine ruhige, gesunde, sichere und verlässliche Umgebung ohne gravierende Mängel in der Basisversorgung zu geben. Die Mutter sei in der allgemeinen Erziehungsfähigkeit deutlich eingeschränkt. Hinsichtlich der speziellen Erziehungsfähigkeit seien insbesondere bei den Teilaspekten körperliche Versorgung und Schutz sowie Vermittlung von Regeln erhebliche Einschränkungen festgestellt worden. Die Mutter befinde sich aufgrund eigener psychischer Erkrankung und ihrer Persönlichkeitsstruktur im Allgemeinen in einer dauernden Überlastungssituation. Hierdurch sei es trotz des großen von außerhalb in der Familie installierten Helfersystems offenbar wiederholt zu Situationen gekommen, die das körperliche, geistige und seelische Wohl der Kinder zumindest mittelfristig gefährdet hätten und auch zukünftig gefährden könnten. Die fachlichen Empfehlungen der durch das Jugendamt installierten Hilfspersonen seien von der Mutter regelmäßig nicht umgesetzt worden.

Das Gericht verkenne nicht, dass es der Mutter unter Inanspruchnahme der diversen durch das Jugendamt installierten Hilfsmaßnahmen zeitweise gelungen sei, eine positive Entwicklung hinsichtlich der Strukturierung des Haushalts und der Kindererziehung in Gang zu setzen. Nachdem allerdings die Fortführung von Hilfemaßnahmen durch das Jugendamt abgelehnt werde und die Mutter daher selbst für eine Verbesserung der Lebens- und Wohnsituation sorgen müsste, sei davon auszugehen, dass für die betroffenen Kinder im Haushalt der Mutter eine latente Gefahrensituation bestehe. Die Anordnung sonstiger, milderer Maßnahmen komme nicht in Betracht. Die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen scheide bereits deswegen aus, weil das zuständige Jugendamt die Durchführung weiterer Hilfemaßnahmen im Haushalt der Mutter ablehne. Das Jugendamt sehe keine geeigneten Hilfsansätze und betrachte die Hilfemaßnahmen als gescheitert. Das Familiengericht sei insoweit an den Beurteilungsrahmen des Jugendamts gebunden.

e) Gegen die erstinstanzliche Entscheidung legte die Beschwerdeführerin Beschwerde ein und beantragte zugleich die Aussetzung ihrer Vollziehung. Hierauf stellte das Amtsgericht mit Beschluss vom 25. Juni 2013 die Vollstreckung seines Beschlusses vom 19. Juni 2013 einstweilen ein.

f) Die Beschwerde der Beschwerdeführerin wurde durch angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts vom 8. November 2013 zurückgewiesen. Der Senat teile die Einschätzung des Familiengerichts, dass es zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung erforderlich sei, der Mutter die elterliche Sorge für ihre beiden jüngsten Kinder in den Teilbereichen Aufenthaltsbestimmung und Beantragung von Hilfen zur Erziehung zu entziehen. Nach den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen sei die Mutter in ihrer Erziehungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Sie sei nicht in der Lage, ausreichend Verantwortung für ihre Kinder wahrzunehmen und sie zu erziehen und zu fördern. Die Sachverständigen hätten im Rahmen ihrer eingehenden Begutachtung erhebliche Defizite bereits bei der Erfüllung der Minimalanforderungen an eine ausreichende körperliche Versorgung und den Schutz der beiden Kinder sowie bei der Vermittlung von Regeln festgestellt.

Auch im Rahmen der über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren installierten intensiven familienpädagogischen Betreuung sei es nicht im erforderlichen Maß gelungen, der Mutter die zur eigenverantwortlichen und eigenständigen Betreuung, Versorgung und Erziehung ihrer Kinder erforderlichen Fähigkeiten zu vermitteln. Aus Sicht der in die ambulante Hilfe einbezogenen Fachkräfte sei auf diesem Weg eine Verbesserung der Situation nicht mehr zu erwarten gewesen. Die Hilfsmöglichkeiten seien ausgeschöpft, die Familienhilfe habe erfolglos beendet werden müssen. Der Senat sehe sich an diese Einschätzung der mit der konkreten Situation vertrauten Fachkräfte gebunden. Er habe keine Veranlassung, an deren Richtigkeit zu zweifeln. Alle in die Familienhilfe eingebundenen Personen hätten gleichermaßen berichtet, dass sich die häusliche Situation und die Entwicklung der Kinder mit der intensiven Unterstützung durch Familienhilfe, Hauswirtschafterin und sozialpädagogische Begleitung zwar (zunächst) verbessert habe, dass mit diesen Hilfen aber keine anhaltenden Veränderungen im Verhalten der Mutter hätten erreicht werden können, ihr insbesondere nicht die Fähigkeiten hätten vermittelt werden können, die Bedürfnisse ihrer Kinder selbständig zu erkennen und entsprechend zu handeln.

g) Die beiden Kinder wurden am 15. November 2013 in eine Pflegefamilie überführt.

h) Die durch die Beschwerdeführerin erhobene Anhörungsrüge wurde mit Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. Dezember 2013 zurückgewiesen.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.

Aufgrund des Sachverhalts habe das Oberlandesgericht nicht zur Feststellung eines bereits eingetretenen Schadens der Kinder oder einer gegenwärtigen nachhaltigen Gefährdung gelangen können. Die Sachverständigen hätten im Rahmen ihrer Begutachtung festgestellt, dass eine akute Kindeswohlgefährdung nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden könne und aus gutachterlicher Sicht nicht sicher als gegeben angesehen werde. Die von den Sachverständigen festgestellte mittelfristige Gefährdungslage reiche nicht aus, um der Beschwerdeführerin das Aufenthaltsbestimmungsrecht entziehen zu können.

Darüber hinaus hätten beide Instanzen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet. Das Amtsgericht sei zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erst gar nicht vorgedrungen, weil es rechtsirrig davon ausgegangen sei, dass dem Jugendamt bei der Frage, ob der Beschwerdeführerin weiter ambulante Hilfe zu bewilligen sei oder die Kinder aus dem Haushalt der Beschwerdeführerin herausgenommen werden müssten, ein Beurteilungsrahmen zustehe, an den das Gericht gebunden sei. Das Oberlandesgericht sei im Rahmen seiner Entscheidung zu dem Ergebnis gekommen, mildere Mittel zur Abwehr der Gefährdung stünden nicht zur Verfügung. Es habe insoweit jedoch wesentlichen Vortrag und wesentliche Beweisantritte der Beschwerdeführerin übergangen.

Das Oberlandesgericht beschäftige sich im Rahmen seiner Entscheidung überhaupt nicht mit der in zweiter Instanz neu aufgetretenen Situation, dass bereits vor Erlass seiner Entscheidung am 8. November 2013 festgestanden habe, dass die Beschwerdeführerin fortan nur noch ihre beiden kleinen Kinder in Obhut habe, so dass die von den Sachverständigen dargelegte Überforderungssituation bei Betreuung der vier Kinder nicht mehr bestanden habe.

3. Die Akten des Ausgangsverfahrens und des Kreisjugendamts lagen der Kammer vor.

4. Die Verfassungsbeschwerde wurde der Landesregierung Rheinland-Pfalz, dem Kreisjugendamt und der Verfahrensbeiständin zugestellt. Es wurden keine Stellungnahmen abgegeben.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Die Beschwerdeführerin wird durch die angegriffenen Entscheidungen in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.

a) Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>). Eine Trennung der Kinder von ihren Eltern stellt den stärksten Eingriff in dieses Recht dar. Sie ist nach Art. 6 Abs. 3 GG allein zu dem Zweck zulässig, das Kind vor nachhaltigen Gefährdungen zu schützen (s.u., b)) und darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (s.u., c)). Diesen Anforderungen werden die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

Dabei kommt ein strenger Kontrollmaßstab zur Anwendung. Zwar sind die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und die Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen im einzelnen Fall grundsätzlich Angelegenheit der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen (vgl. BVerfGE 72, 122 <138>; stRspr). Bei gerichtlichen Entscheidungen, die Eltern zum Zweck der Trennung des Kindes von den Eltern das Sorgerecht für ihr Kind entziehen, besteht hingegen wegen des sachlichen Gewichts der Beeinträchtigung der Grundrechte von Eltern und Kindern Anlass, über den grundsätzlichen Prüfungsumfang hinauszugehen (vgl. BVerfGE 55, 171 <181>; 75, 201 <221 f.>). Vor allem prüft das Bundesverfassungsgericht, ob das Familiengericht in nachvollziehbarer Weise angenommen hat, es bestehe eine nachhaltige Gefährdung des Kindeswohls und diese sei nur durch die Trennung des Kindes von den Eltern, nicht aber durch weniger eingreifende Maßnahmen abwendbar. Dabei kann sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle wegen des besonderen Eingriffsgewichts ausnahmsweise auch auf einzelne Auslegungsfehler (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>; 75, 201 <222>) sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken.

b) Die Annahme, hier liege eine die Trennung der Kinder von der Mutter rechtfertigende Kindeswohlgefährdung vor, hält verfassungsrechtlicher Kontrolle am strengen Maßstab des Art. 6 Abs. 2 und 3 GG nicht stand.

aa) Soweit es um die Trennung des Kindes von seinen Eltern geht, ist dieser Grundrechtseingriff allein zu den in Art. 6 Abs. 3 GG genannten Zwecken zulässig. Danach dürfen Kinder gegen den Willen des Sorgeberechtigten nur von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts, die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (vgl. BVerfGE 24, 119 <144 f.>; 60, 79 <91>). Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts des Staates, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Das Grundgesetz hat den Eltern die primäre Entscheidungszuständigkeit bezüglich der Förderung ihrer Kinder zugewiesen. Dabei wird auch in Kauf genommen, dass Kinder durch Entscheidungen der Eltern wirkliche oder vermeintliche Nachteile erleiden (vgl. BVerfGE 60, 79 <94>; BVerfGK 13, 119 <124>). Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>). Ihren einfachrechtlichen Ausdruck hat diese Anforderung in § 1666 Abs. 1 BGB gefunden. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße besteht, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfGK 19, 295 <301>; BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2004 – XII ZB 166/03 -, FamRZ 2005, S. 344 <345>).

bb) Dass die beiden Kinder bei einem Verbleib bei ihrer Mutter in ihrem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet sind, lässt sich aufgrund der Erwägungen beider Gerichte nicht mit der gebotenen Sicherheit feststellen.

(1) Amtsgericht und Oberlandesgericht stützen die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung maßgeblich auf das eingeholte Sachverständigengutachten, obwohl dieses weder ausdrücklich noch in der Sache zu dem Ergebnis gelangt, dass eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung im Sinne eines bereits eingetretenen Schadens der Kinder oder einer gegenwärtigen Gefahr besteht. Die Gutachter führen aus, eine „akute Kindeswohlgefährdung“ sei bei keinem der Kinder zweifelsfrei nachgewiesen. Zwar sehen sie eine „mittel- bzw. langfristige Gefährdung“ des Kindeswohls. Eine künftige Gefährdung begründet jedoch keine nachhaltige Kindeswohlgefahr im verfassungsrechtlichen Sinne.

Vor diesem Hintergrund ist auch die im Wesentlichen auf die Feststellungen der Sachverständigen gestützte, in der Begründung beider Gerichte zentrale Annahme tatsächlich nicht hinreichend nachvollziehbar, die Mutter erfülle bereits die Minimalanforderungen an eine ausreichende körperliche Versorgung ihrer Kinder nicht. Das Oberlandesgericht führt dies nicht aus. Das Amtsgericht zitiert hierfür zwar zusätzlich die Feststellung der Sachverständigen, es bestünden Defizite der Beschwerdeführerin bei der Beschaffung von witterungsgerechter Kleidung für die Kinder, in der Organisation des Alltags, in der Hautpflege der Kinder mit Neurodermitis, hinsichtlich einer allergenarmen Umgebung zu Hause, bei der Zahnpflege, bei der Beschränkung des Medienkonsums und bei der Zubereitung kindgerechter Mahlzeiten. Diese Aufzählung von Defiziten lässt erkennen, dass hier keine guten Bedingungen für die Entwicklung eines Kindes bestehen. Auf einen eingetretenen Schaden oder eine gegenwärtige Gefahr im Sinne von Art. 6 Abs. 3 GG lässt die bloße Inbezugnahme dieser Umstände jedoch schon deshalb nicht schließen, weil die Sachverständigen selbst hieraus lediglich eine mittel- bis langfristige Gefährdung abgeleitet haben.

(2) Weil die Sachverständigen in ihrem Gutachten eine nachhaltige Kindeswohlgefahr weder im Ergebnis noch der Sache nach festgestellt haben, hätten die Gerichte selbst aufzeigen müssen, aus welchen Umständen sie schließen, dass bereits ein Schaden bei den Kindern eingetreten ist oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße besteht, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt und worin dieser Schaden konkret besteht. Tatsächlich haben beide Gerichte weitere Umstände angeführt. Diese tragen die Annahme einer nachhaltigen Kindeswohlgefahr jedoch nicht.

(a) Das Amtsgericht führt ergänzend aus, die Unfähigkeit der Mutter, für eine schadfreie Umgebung der Kinder zu sorgen, zeige sich auch daran, dass sie, obwohl bei den beiden älteren Kindern chronische Hauterkrankungen vorlagen, nicht für ein hygienisches Lebensumfeld Sorge getragen habe. Die Wohnung sei oft in einem chaotischen und unhygienischen Zustand gewesen. Zudem habe die Mutter zuletzt auch noch einen Hund angeschafft. Bei im Übrigen körperlich gesunden Familienmitgliedern und grundsätzlich hygienischen Lebensumständen möge die Anschaffung eines Haustieres regelmäßig kein gewichtiger Negativfaktor sein. Unter Beachtung der Erkrankungen der Kinder und der ohnehin sehr bedenklichen Zustände der Wohnung zeige dies allerdings, dass die Mutter die eigene Situation und Belastbarkeit völlig falsch einschätze.

Zwar bietet die häusliche Situation der Beschwerdeführerin deren Kindern zweifelsohne auch insoweit keine guten Entwicklungsbedingungen. Eine die Trennung der Kinder von der Mutter rechtfertigende nachhaltige Kindeswohlgefahr vermag der vom Amtsgericht hervorgehobene Umstand, dass die Mutter trotz chronischer Hauterkrankungen der Kinder zusätzlich ein Haustier angeschafft hat, aber schon deshalb nicht zu begründen, weil die beiden hautkranken Kinder nicht mehr im Haushalt der Mutter leben. Dass die beiden verbliebenen Kinder unter vergleichbaren Gesundheitsproblemen leiden, ist nicht ersichtlich. Ungeachtet der Frage, ob das beschriebene Verhalten überhaupt eine Art. 6 Abs. 3 GG genügende nachhaltige Kindeswohlgefahr begründen konnte, lässt sich eine Trennung von Kind und Eltern grundsätzlich nicht auf eine in der Vergangenheit liegende Gefährdungslage stützen, weil es auch dann an der verfassungsrechtlich geforderten Gegenwärtigkeit einer konkreten Gefahr fehlt.

Das Amtsgericht selbst gelangt folgerichtig, jedoch verfassungsrechtlich nicht ausreichend lediglich zu der Einschätzung, dass für die betroffenen Kinder eine „latente“ Gefahrensituation im Haushalt der Mutter bestehe.

(b) Eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung lässt sich entgegen den Feststellungen des Oberlandesgerichts auch nicht aus dem Verhalten des älteren der beiden Kinder im Kindergarten herleiten. So begründen weder das von der Verfahrensbeiständin beschriebene introvertierte Wesen des Kindes noch eine gewisse Distanziertheit des Kindes zur Mutter und zu anderen Personen oder gar der Umstand, dass das Kind an Aktivitäten in der Kindergartengruppe nur eingeschränkt teilnehme und entweder allein oder mit zwei anderen Kindern spiele, die ebenfalls nur bedingt in die Gruppe integriert seien, eine die Trennung von Mutter und Kindern rechtfertigende Kindeswohlgefahr.

c) Die Entscheidungen genügen zudem nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Trennung des Kindes von seinen Eltern darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (vgl. BVerfGE 60, 79 <89>). Das setzt voraus, dass die Trennung zur Erreichung der Abwendung einer nachhaltigen Kindeswohlgefahr geeignet und erforderlich ist und dazu in angemessenem Verhältnis steht.

aa) Es lässt sich nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen, dass die Trennung der Kinder von der Mutter geeignet ist, die von den Gerichten angenommenen Gefahren zu beseitigen oder abzumildern. Zwar wäre die Trennung grundsätzlich geeignet, die nach Ansicht der Gerichte bei der Mutter für die Kinder bestehenden Gefahren zu beseitigen. Allerdings ruft die Trennung des Kindes von den Eltern regelmäßig eigenständige Belastungen des Kindes hervor, weil das Kind unter der Trennung selbst dann leiden kann, wenn sein Wohl bei den Eltern nicht gesichert war. Eine Maßnahme kann nicht ohne Weiteres als zur Wahrung des Kindeswohls geeignet gelten, wenn sie ihrerseits nachteilige Folgen für das Kindeswohl haben kann. Solche negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung sind zu berücksichtigen (vgl. BVerfGK 19, 295 <303>) und müssten durch die Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessern würde (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2011 – XII ZB 247/11 -, FamRZ 2012, S. 99 <102>).

Dies lässt sich hier nicht feststellen. Weder das Oberlandesgericht noch das Amtsgericht haben die Folgen der plötzlichen Herausnahme der Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung sowie der Trennung von ihrer Mutter und der Unterbringung in einer Pflegefamilie ins Verhältnis zu den negativen Folgen eines weiteren Verbleibens der Kinder bei der Mutter gesetzt.

bb) Schließlich sind die konkret getroffenen Anordnungen zur Erreichung des verfolgten Zwecks nicht erforderlich. Erforderlich ist eine Maßnahme nur dann, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht, das zur Erreichung des angestrebten Zwecks gleich gut geeignet ist (vgl. BVerfGE 100, 313 <375>).

(1) Der Staat muss darum, bevor er Kinder von ihren Eltern trennt, nach Möglichkeit versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (vgl. BVerfGE 24, 119 <145>; 60, 79 <93>). In Übereinstimmung mit diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen erklärt § 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, nur dann für zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann.

(2) Dass keine milderen Mittel zur Verfügung standen, die ebenso geeignet gewesen wären, die festgestellte Gefährdung von den Kindern abzuwenden, lässt sich hier nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen. Als mildere Mittel kommen Maßnahmen in Betracht, die einen Verbleib der Kinder bei der Beschwerdeführerin mit staatlicher Hilfe ermöglichen könnten. Zu Recht haben darum beide Gerichte die Frage weiterer Hilfemaßnahmen aufgeworfen. Beide Gerichte haben indessen verneint, dass die von ihnen angenommene Kindeswohlgefährdung durch weitere Hilfemaßnahmen abgewendet werden könnte und haben solchen Maßnahmen damit im konkreten Fall die Eignung zur Zweckerreichung abgesprochen. Insoweit halten weder die Ausführungen des Oberlandesgerichts noch die des Amtsgerichts der hier notwendig strengen verfassungsrechtlichen Prüfung stand.

(a) Die Ausführungen des Oberlandesgerichts lassen nicht mit hinreichender Sicherheit erkennen, dass die angenommene Kindeswohlgefährdung nicht durch weitere öffentliche Hilfemaßnahmen abgewendet werden könnte. Die Beschwerdeführerin ist bereit, Hilfen anzunehmen und hat deren Fortsetzung erfolglos beantragt. Das Oberlandesgericht geht allerdings davon aus, dass mit den gewährten Hilfen keine anhaltenden Veränderungen im Verhalten der Mutter erreicht werden können. Für diese Annahme ist eine hinreichende tatsächliche Grundlage jedoch nicht erkennbar.

(aa) Die Feststellung des Oberlandesgerichts, alle in die Familienhilfe eingebundenen Personen hätten „gleichermaßen“ berichtet, dass mit den gewährten Hilfen keine anhaltenden Veränderungen im Verhalten der Mutter hätten erreicht werden können, ist nicht nachvollziehbar. Zwar haben sich das Kreisjugendamt, die Verfahrensbeiständin und andere Helfer aus dem Umfeld der Beschwerdeführerin für eine Herausnahme der Kinder aus deren Haushalt ausgesprochen. Im Gegensatz dazu wurde jedoch in den dem Gericht vorliegenden Berichten des zuletzt in der Familie tätigen Familienhilfeträgers eine insgesamt positive Entwicklung festgestellt. So wird etwa im Bericht für den Zeitraum 1. Oktober 2011 – 1. Februar 2012 ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin die Wohnung jede Woche etwas mehr strukturiere, sie nehme Verbesserungsvorschläge an und entwickle eigene Lösungen daraus. Laut Bericht für den Zeitraum 5. Januar 2012 – 4. September 2012 sei weiter ein Prozess der ständigen Verbesserung erkennbar. In ihrem Bericht für den Zeitraum 14. September 2012 – 31. Dezember 2012 führen die Familienhelfer schließlich aus, dass eine „Fortführung der positiven Entwicklung“ zu verzeichnen sei. Ausweislich des Protokolls der Anhörung am 27. März 2013 im amtsgerichtlichen Verfahren der einstweiligen Anordnung, dessen Akte beizuziehen die Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren beantragt hatte, berichtete die Familienhelferin außerdem, dass die Beschwerdeführerin sich stabilisiert habe und der Alltag besser geregelt gewesen sei. Die Mutter habe die Unterstützung der Familienhelferin durchgehend angenommen. Sie habe während ihrer Zeit in der Familie weder eine Verwahrlosung noch eine sonstige konkrete Gefährdung der Kinder gesehen. Diese seien versorgt worden, wenn auch nicht optimal. Sie hätte zuletzt den Eindruck gehabt, dass die Beschwerdeführerin es mit fremder Hilfe schaffen würde, auch ihre Berufstätigkeit sowie die zahlreichen Termine, die für die Kinder und sie selbst wahrgenommen werden müssen, zu regeln.

Es findet sich keine Begründung dafür, warum diesen Aussagen keine Bedeutung beigemessen werden sollte. Zwar ist es offenbar zu Unstimmigkeiten zwischen Jugendamt und freien Trägern gekommen. So ist auch im Sachverständigengutachten ausgeführt, dass es zum Ende des Hilfezeitraums einige „Ungereimtheiten“ gegeben habe, die nicht näher bewertet werden könnten. Daraus folgt jedoch nicht ohne Weiteres, dass die Aussagen der freien Träger unbeachtlich sind.

(bb) Darüber hinaus wäre zu berücksichtigen gewesen, dass die Beschwerdeführerin aufgrund des Wechsels der beiden älteren Kinder in die Obhut des Vaters im März und im Juni 2013 zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts nur noch zwei Kinder zu betreuen hätte. Vor diesem Hintergrund drängt sich die vom Gericht nicht beantwortete Frage auf, ob weitere Hilfemaßnahmen eventuell eine weitergehende Wirkung entfalten würden als zu der Zeit, als sich vier Kinder in der Obhut der Beschwerdeführerin befanden. Zwar haben die Sachverständigen im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Amtsgericht auch für den Fall der verkleinerten Familie eine Kindeswohlgefährdung angenommen. Die Sachverständigen haben jedoch gerade nicht die Situation im Falle fortgesetzter Hilfemaßnahmen bewertet, sondern haben die Situation für den Fall beurteilt, dass die Beschwerdeführerin mit den beiden Kindern auf sich gestellt wäre.

(b) Auch die Ausführungen des Amtsgerichts lassen nicht erkennen, dass die angenommene Kindeswohlgefährdung nicht durch mildere Mittel in Gestalt weiterer öffentlicher Hilfemaßnahmen abgewendet werden könnte. Das Amtsgericht sah sich insoweit an die Einschätzung des Jugendamts gebunden und hat es versäumt, selbständig zu ermitteln, ob öffentliche Hilfen tatsächlich geeignet waren, die Kindeswohlgefahr abzuwenden (aa). Die Eignung öffentlicher Hilfen war nicht allein durch die Weigerung des Jugendamts ausgeschlossen, der Beschwerdeführerin weitere Hilfen zu gewähren (bb).

(aa) Das Amtsgericht konnte nicht allein aufgrund der ungeprüft übernommenen Einschätzung des Jugendamts davon ausgehen, die Fortführung der Hilfemaßnahmen sei nicht geeignet, die Beschwerdeführerin in den Stand zu versetzen, ihrer Elternverantwortung gerecht zu werden. Dies hätte das Amtsgericht vielmehr eigenständig ermitteln müssen.

Das Familiengericht hat bei der Entscheidung nach §§ 1666, 1666a BGB zu ermitteln, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Entziehung des Sorgerechts vorliegen. Es muss sein Verfahren so gestalten, dass es selbst möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen kann (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Die hier maßgebliche Frage, ob der Gefahr für die Kinder nicht auf andere Weise als durch Trennung von den Eltern, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann (§ 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB), betrifft eine verfassungsrechtlich zentrale Tatbestandsvoraussetzung und muss darum vom Familiengericht von Amts wegen aufgeklärt werden. Ob öffentliche Hilfen erfolgversprechend sind, muss das Familiengericht letztlich in eigener Verantwortung beurteilen, wozu es sich eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage verschaffen und diese in seiner Entscheidung auch darlegen muss (vgl. BVerfGK 13, 119 <127 f.>). Die eigene Ermittlungspflicht trägt dazu bei, zu verhindern, dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 GG vorliegen und schützt damit Grundrechte der Eltern und des Kindes.

Weil die Ermittlungspflicht grundrechtliche Schutzfunktion entfaltet, können sich die Gerichte ihrer nicht ohne gesetzliche Grundlage entledigen – auch nicht im Wege der Annahme einer Bindung an Feststellungen des Jugendamts. Ob eine gesetzliche Bindung des Familiengerichts an die Feststellungen und Wertungen des Jugendamts besteht, ist – ungeachtet der Frage der Vereinbarkeit einer solchen Bindung mit dem Grundgesetz – zunächst eine Frage der Auslegung des einfachen Rechts. Aus §§ 1666, 1666a BGB oder den Vorschriften des SGB VIII über die Gewährung öffentlicher Hilfen ist für die Annahme einer Bindung des Familiengerichts an die Feststellungen des Jugendamts nichts erkennbar. Das Amtsgericht behauptet eine solche Bindung zwar, zeigt jedoch nicht auf, inwiefern diese durch Auslegung des geltenden Rechts hergeleitet werden könnte. Eine Bindung ergibt sich auch nicht aus den Grundsätzen über die verfassungsrechtliche Anerkennung administrativer Letztentscheidungsrechte. Danach sind behördliche Entscheidungen in besonderen, wiederum gesetzlich zu bestimmenden Konstellationen gerichtlich nur eingeschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfbar. Dies gilt für behördliche Planungs- und Ermessensentscheidungen sowie ausnahmsweise für gebundene Entscheidungen, bei denen der Gesetzgeber der Verwaltung im Verhältnis zur die Verwaltung kontrollierenden Gerichtsbarkeit einen sogenannten Beurteilungsspielraum eingeräumt hat (vgl. BVerfGE 129, 1 <21 ff.> m.w.N.). Diese Grundsätze kommen hier – ungeachtet der fehlenden gesetzlichen Grundlage – jedoch bereits deshalb nicht zur Anwendung, weil die familiengerichtliche Entscheidung nach § 1666 BGB nicht als Kontrolle behördlicher Entscheidungen, sondern als eigene und originäre Sachentscheidung des Gerichts ausgestaltet ist. Die gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen des Jugendamts über die Gewährung öffentlicher Hilfen obliegt de lege lata nicht den Familiengerichten, sondern den Verwaltungsgerichten (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2001 – 5 C 6/00 -, juris, Rn. 11; Coester, in: Staudinger, 2009, § 1666a, Rn. 13; Olzen, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch*, 6. Auflage, 2012, § 1666, Rn. 177).

Dass das Familiengericht bei der Entscheidung nach § 1666 BGB nicht rechtlich an die Einschätzung des Jugendamts zur Eignung weiterer Hilfemaßnahmen gebunden ist, schließt freilich nicht aus, dass es bei der ihm aufgegebenen Ermittlung der für und gegen einen Sorgerechtsentzug sprechenden Tatsachen auch die Aussagen der seitens des Jugendamts mit dem Sachverhalt befassten Fachkräfte heranzieht. Das gilt auch für deren Einschätzung der Zweckerreichungseignung weiterer Hilfemaßnahmen. Beim Jugendamt werden häufig aufgrund unmittelbarer Kontakte mit den betroffenen Familien gute Kenntnisse über den einzelnen Sachverhalt bestehen, die sich das Familiengericht bei seiner Entscheidungsfindung zunutze machen kann. Das Gericht hat diese Aussagen jedoch wie die Angaben anderer mit dem Fall befasster Personen genau zu analysieren, mit anderen Informationen abzugleichen und in den größeren sachlichen Kontext zu stellen, um so etwa besondere Spannungsverhältnisse berücksichtigen zu können, wie sie hier zwischen staatlichen Stellen und freien Trägern aufgetreten zu sein scheinen. Es hat all das rechtlich zu würdigen und vor diesem Hintergrund eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob die Entziehung des Sorgerechts durch (weitere) Maßnahmen öffentlicher Hilfe abgewendet werden kann und darum aus Gründen der Verhältnismäßigkeit unterbleiben muss. Dem wird das Familiengericht nicht gerecht, wenn es ohne Weiteres von einer Bindung an die Einschätzung des Jugendamts ausgeht.

(bb) Das Amtsgericht durfte die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen auch nicht deshalb als denkbares milderes Mittel außer Betracht lassen, weil die Durchführung einer vom Jugendamt bereits abgelehnten Hilfemaßnahme praktisch nicht durchsetzbar wäre. Zwar ist ungewiss, ob das Familiengericht befugt ist, das Jugendamt zur Gewährung öffentlicher Hilfen zu verpflichten. Jedoch können die Personensorgeberechtigten den Anspruch auf Hilfen nach §§ 27 ff. SGB VIII grundsätzlich vor den Verwaltungsgerichten durchsetzen. Allerdings ist der Mutter hier auch das Recht zur Beantragung von Hilfen entzogen und gerade auf das Jugendamt als Ergänzungspfleger übertragen worden. Das Jugendamt kann den Anspruch auf öffentliche Hilfen im Weigerungsfall nicht gegen sich selbst im Gerichtswege durchsetzen. Das den Eltern unverändert zustehende Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gebietet indessen, auch in diesem Fall eine effektive Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung der behördlichen Entscheidungen zu eröffnen. Mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wäre es nicht zu vereinbaren, wenn im grundrechtssensiblen Bereich des Kindesschutzes eine Situation entstünde, in der behördliche Entscheidungen über die Gewährung öffentlicher Hilfen gerichtlicher Überprüfung entzogen wären. Das gilt erst recht dann, wenn diese Hilfen – wie hier – ein Mittel zur Abwendung der Trennung des Kindes von den Eltern sein können (§ 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB), ohne deren Gewährung das Kind von den Eltern getrennt werden müsste. Das Amtsgericht durfte darum nicht allein wegen der ablehnenden Haltung des Jungendamts von der fehlenden Möglichkeit öffentlicher Hilfen ausgehen.

(cc) Das hier aus der Annahme einer vollumfänglichen Bindung an die Einschätzung des Kreisjugendamts resultierende Defizit bei der Ermittlung und Berücksichtigung milderer Mittel führt angesichts der Eingriffsintensität ohne Weiteres zur Verfassungswidrigkeit der Entscheidung.

2. Ob darüber hinaus der von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vorliegt, kann hier dahinstehen.

3. Die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 19. Juni 2013 und des Oberlandesgerichts vom 8. November 2013 beruhen auf den möglichen Verstößen gegen das Elternrecht. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gerichte bei ausreichender Ermittlung und Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Lichte des bei der Trennung eines Kindes von den Eltern von Verfassungs wegen anzulegenden Beurteilungsmaßstabs eine Entscheidung zugunsten der Beschwerdeführerin getroffen hätten.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

BVerfG, Beschluss vom 24.03.2014
1 BvR 160/14

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