In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…),
gegen
a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 10. August 2022 – 12 UF 125/22 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Bückeburg vom 6. Juli 2022 – 51 F 36/22 EASO -,
c) den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 8. Juni 2022 – 12 UF 70/22 -,
d) den Beschluss des Amtsgerichts Bückeburg vom 1. April 2022 – 51 F 36/22 EASO –
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Britz und die Richter Christ, Radtke
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. Februar 2023 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den vorläufigen Entzug des Sorgerechts.
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, mit denen ihr und dem Vater das Sorgerecht für ihre 15 und 16 Jahre alten Töchter vorläufig entzogen und Vormundschaft eingerichtet wurde. Beide Töchter leben wegen Gewaltvorwürfen gegenüber der Beschwerdeführerin seit Ende August 2021 bei der Großmutter väterlicherseits. Die Beschwerdeführerin macht unter anderem die Unverhältnismäßigkeit des Sorgerechtsentzugs geltend.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie weder grundsätzliche Bedeutung hat noch ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Sie ist insgesamt aus unterschiedlichen Gründen unzulässig.
1. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 8. Juni 2022 sowie die familiengerichtlichen Beschlüsse vom 1. April und vom 6. Juli 2022 wendet, mangelt es jeweils am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.
a) Hinsichtlich des genannten oberlandesgerichtlichen Beschlusses, mit dem die vorausgegangene Entscheidung des Familiengerichts aufgehoben und das Verfahren an dieses zurückverwiesen wurde, fehlt es der Beschwerdeführerin an der Beschwerdebefugnis. Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, kann sich die Beschwer in aller Regel nur aus deren Tenor ergeben; er allein bestimmt verbindlich, welche Rechtsfolgen aufgrund des festgestellten Sachverhalts eintreten. Rechtsausführungen sowie nachteilige oder als nachteilig empfundene Ausführungen in den Gründen einer Entscheidung allein begründen keine Beschwer. Eine Verfassungsbeschwerde kann daher nicht lediglich darauf gestützt werden, dass ein Gericht in den Gründen seiner Entscheidung eine Rechtsauffassung vertreten hat, die der Beschwerdeführer für grundrechtswidrig erachtet (vgl. BVerfGE 140, 42 <54 f. Rn. 47 f.> m.w.N.).
Das Oberlandesgericht hat die vorangegangene, die Beschwerdeführerin belastende Entscheidung des Familiengerichts vom 1. April 2022 aufgehoben. Damit ist die Beschwerdeführerin nicht beschwert. Dass das Oberlandesgericht in den Gründen die Entscheidung des Familiengerichts materiell-rechtlich als zutreffend betrachtet, ist für die Beurteilung der Beschwer unerheblich, weil es insoweit nur auf die Beschlussformel der angegriffenen Entscheidung ankommt.
b) Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen die Beschlüsse des Familiengerichts wendet, ist das Rechtsschutzbedürfnis ebenfalls weder dargelegt noch ersichtlich. Beide sind durch die Sachentscheidungen des Oberlandesgerichts prozessual überholt (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 2022 – 1 BvR 1807/20 -, Rn. 35 und vom 15. November 2022 – 1 BvR 1667/22 -, Rn. 12; stRspr). Ein dennoch fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis, sich gegen den aufgehobenen Beschluss vom 1. April 2022 wenden zu können, ist weder dargelegt noch erkennbar.
Das gilt auch für den familiengerichtlichen Beschluss vom 6. Juli 2022. Dieser dürfte zwar teilweise verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sein, weil das Familiengericht letztlich darauf verzichtet hat zu begründen, warum dem Vater ebenfalls das Sorgerecht für die beiden Töchter entzogen worden ist. Sollte sich das Familiengericht mit seinem Hinweis, der Vater habe ausdrücklich sein Einverständnis erklärt, auf § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG gestützt haben, bestehen erhebliche Zweifel, ob die Vorschrift das Absehen von einer Begründung gestattete (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 31. Mai 2019 – 13 UF 13/19 -, Rn. 73 m.w.N.). Daraus kann sich allerdings kein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin ergeben. Denn durch den möglichen Verfahrensfehler würden lediglich Rechte des Vaters betroffen, nicht aber solche der Beschwerdeführerin.
2. Im Hinblick auf den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 10. August 2022 genügt die Begründung der Verfassungsbeschwerde aus mehreren Gründen nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Anforderungen.
a) Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, bedarf es außer der Vorlage der angegriffenen Entscheidungen auch der jener Schriftstücke, ohne deren Kenntnis sich die Berechtigung der geltend gemachten Rügen nicht beurteilen lässt; zumindest muss der wesentliche Inhalt wiedergegeben werden, weil das Bundesverfassungsgericht nur so in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (vgl. BVerfGE 112, 304 <314 f.>; 129, 269 <278>; stRspr).
Dem trägt die Verfassungsbeschwerde nicht ausreichend Rechnung. Die Beschwerdeführerin hat die Berichte des Jugendamts vom 9. März 2022 und der Verfahrensbeiständin vom 21. März 2022 nicht vorgelegt, mit denen diese Beteiligten im Verfahren vor dem Familiengericht Stellung genommen und die fehlende Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern dargestellt haben. Ohne Kenntnis der schriftlichen Einschätzungen der beteiligten Fachkräfte lässt sich nicht in der erforderlichen Weise nachprüfen, ob und inwieweit die Feststellungen des Oberlandesgerichts der verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten. Aus den Gründen der angegriffenen Entscheidungen vom 6. Juli 2022 und vom 10. August 2022 ergibt sich nämlich, dass das Familiengericht seine Einschätzung der Kindeswohlgefährdung auch auf diese Berichte stützt und das Oberlandesgericht insoweit auf die Begründung der Entscheidung des Familiengerichts vollumfänglich Bezug genommen hat.
b) Die Beschwerdeführerin zeigt zudem die Möglichkeit der Verletzung ihres Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht in der nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG gebotenen substantiierten Weise auf. Obwohl der Beschluss des Oberlandesgerichts in der Anwendung des Fachrechts nicht ohne Bedenken ist, liegt eine Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin dadurch nicht derart auf der Hand, dass auf die weitere Substantiierung verzichtet werden könnte (vgl. zum Maßstab BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Mai 2022 – 1 BvR 326/22 -, Rn. 11 m.w.N.).
aa) Das Oberlandesgericht hat die Voraussetzungen für den ‒ hier vorläufigen ‒ Entzug des Sorgerechts nach §§ 1666, 1666a BGB zwar lediglich kursorisch geprüft. Aus der Bezugnahme auf die Entscheidung des Familiengerichts vom 6. Juli 2022 ergibt sich aber, dass der Sorgerechtsentzug im Wesentlichen auf die Gewaltanwendung der Beschwerdeführerin zum Nachteil der Töchter und die Nutzung des Sorgerechts als Druckmittel gestützt worden ist. Zudem hat das Oberlandesgericht wiederum durch vollumfängliche Bezugnahme auf das Familiengericht eine Gesundheitsgefährdung bei Ausübung des Sorgerechts durch die Beschwerdeführerin durch die Absage von Arztterminen für die Töchter und die Ablehnung ärztlich vorgeschlagener Behandlungen mit Cortison und Antibiotika noch hinreichend dargelegt. Das genügt hier der Anforderung, bei dem Entzug des Sorgerechts auf der Grundlage von § 1666 BGB grundsätzlich die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Mai 2022 – 1 BvR 326/22 -, Rn. 13 m.w.N.), noch.
Allerdings lässt der Beschluss eine Auseinandersetzung mit dem Umstand vermissen, dass die Töchter sich derzeit bei der Großmutter befinden und die Beschwerdeführerin sich jedenfalls grundsätzlich damit einverstanden erklärt hat. Das gab Anlass, näher zu begründen, warum trotz dieses Aufenthalts ein Entzug des gesamten Sorgerechts erforderlich ist.
bb) Damit geht jedoch keine auf der Hand liegende Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin einher. Das gilt selbst dann, wenn der Beschluss des Oberlandesgerichts trotz des Einverständnisses des Vaters wegen der tatsächlichen Trennung der Töchter von beiden Elternteilen an den strengen, aus Art. 6 Abs. 3 GG folgenden verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen wäre (dazu vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn. 28 f.>), was offen bleiben kann.
Soweit dies anhand der nicht vollständig vorgelegten Unterlagen (dazu Rn. 11) beurteilt werden kann, dürfte das Oberlandesgericht mit den ‒ nicht vorgelegten ‒ Berichten des Jugendamtes und der Verfahrensbeiständin sowie den aus den persönlichen Anhörungen von Eltern und Kindern vor dem Familiengericht eine hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung gehabt haben.
cc) Aus dem auf § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG gestützten Verzicht des Oberlandesgerichts auf eine mündliche Verhandlung resultiert hier ebenfalls keine Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin. § 68 Abs. 5 FamFG, der ein solches Vorgehen bei Entscheidungen über den Entzug des Sorgerechts nach §§ 1666, 1666a BGB ausschließt, findet nach verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender, wohl einhelliger fachrechtlicher Auffassung im einstweiligen Anordnungsverfahren keine Anwendung (vgl. Müther, in: Dutta/Jacoby/Schwab, FamFG, 4. Aufl. 2022, § 68 Rn. 23; Sternal, in: Sternal, FamFG, 21. Aufl. 2023, § 68 Rn. 82).
3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Britz, Christ, Radtke
BVerfG, Beschluss vom 15.02.2023
1 BvR 1773/22