VG Berlin: Kein Unterhaltsvorschuss, weil nicht alleinerziehend bei Betreuung 35 % / 65 %

VG Berlin: Kein Unterhaltsvorschuss, weil nicht alleinerziehend bei Betreuung 35 % / 65 %

Die Frage, ob die Kindesmutter “alleinerziehend” im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG ist, richtet sich nach den vom Unterhaltsvorschussgsesetz vorgegebenen Maßstäben und nicht nach der Rechtsprechung der Familiengerichte zum Weiterbestehen einer Unterhaltspflicht des Kindesvaters auch bei erweitertem Umgang. Der Gesetzgeber hat trotz wiederholter Änderungen des Unterhaltsvorschussgesetzes – zuletzt mit Gesetzen vom 12. Dezember 2019 und vom 23. Mai 2022 – keinen Anlass gesehen, im Hinblick auf die bekannte unterhaltsvorschussrechtliche Rechtsprechung eine Änderung oder Klarstellung im Unterhaltsvorschussgesetz vorzunehmen.

Soweit die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung einer Bewilligung von Unterhaltsvorschussleistungen.

Sie ist deutsche Staatsangehörige und Mutter des am 2. Juni 2009 geborenen N … . Kindesvater ist Herr S …, … *8 … . Die Kindeseltern waren nicht verheiratet und haben sich 2011 getrennt. Die Klägerin erhielt ab Juli 2017 vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin antragsgemäß Unterhaltsvorschussleistungen für ihr Kind. Anfang April 2021 teilte der Kindesvater der Unterhaltsvorschussstelle mit, in Folge einer Vereinbarung vor dem Familiengericht habe er mehr Umgang mit dem Kind. Seit Oktober 2020 lebe das Kind in ungeraden Kalenderwochen von Donnerstagnachmittag bis Montagmorgen bei ihm, in geraden Kalenderwochen von Mittwochnachmittag bis Donnerstagmorgen. Die Unterhaltsvorschussstelle errechnete hieraus einen Betreuungsanteil von 35,70 %. Daraufhin hörte sie die Klägerin förmlich zu einer beabsichtigten Heranziehung zu einer Ersatzzahlung für die in der Zeit von Oktober 2020 bis April 2021 erfolgten Unterhaltsleistungen mit der Begründung an, seit Oktober 2020 fehle es an dem Erfordernis der Alleinerziehung. Die Zahlungen wurden ab Mai 2021 angehalten. Mit Aufhebungs-/Einstellungsbescheid vom 12. Mai 2021 hob sie den Bewilligungsbescheid mit Wirkung vom 1. Oktober 2020 auf und erklärte die Einstellung der Leistungen ab diesem Zeitpunkt. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 2021 mit der Begründung zurück, ab dem genannten Zeitpunkt sei die Klägerin nicht mehr als alleinerziehend anzusehen.

Mit der hiergegen am 16. September 2021 erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, es sei problematisch, wenn Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz nach anderen Maßgaben als in der familiengerichtlichen Rechtsprechung behandelt würden. Die familiengerichtlichen Entscheidungen, die immer häufiger erweiterte Umgangskontakte über den klassischen Wochenendumgang hinaus vorsähen, würden grundsätzlich davon ausgehen, dass es dem Wohl eines Kindes entspreche, so viel Zeit wie möglich mit seinem Vater zu verbringen. Das dürfe nicht dadurch torpediert werden, dass der betreuungspflichtige Elternteil in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerate, weil der erweitert umgangsberechtigte Elternteil nicht in der Lage sei, Mindestunterhaltsbeträge zu leisten. Eine Korrektur der Rechtsprechung zum Unterhaltsvorschussgesetz erscheine daher dringend erforderlich, insbesondere verbiete sich eine pauschalierende Betrachtung wie das Abstellen auf einen quantitativen Umfang der Betreuung von einem Drittel der Betreuungszeit. Im Übrigen erreiche der Betreuungsumfang des Kindesvaters auch nicht ein Drittel.

Nachdem die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung den angefochtenen Bescheid insoweit aufgehoben hat, als die Aufhebung des Bewilligungsbescheides mit Rückwirkung erfolgt ist, und die Beteiligten daraufhin den Rechtsstreit insoweit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, beantragt die Klägerin, den Bescheid des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg von Berlin vom 12. Mai 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 2021 im Übrigen aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Bescheid vom 1. Oktober 2021 hat der Beklagte die Klägerin zu der angekündigten Ersatzzahlung herangezogen und den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2022 zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene Klage ist zum Aktenzeichen VG 21 K 184/22 anhängig.

Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung die Klägerin persönlich angehört und den Kindesvater als Zeugen vernommen; wegen des Ergebnisses der Befragungen wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die die Klägerin betreffenden Streitakten einschließlich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Jugendamtes Bezug genommen. Die genannten Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit insoweit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, als die Vertreterin des Beklagten den angefochtenen Bescheid in der mündlichen Verhandlung aufgehoben hat (in Bezug auf die verfügte Rückwirkung der Aufhebung), ist das Verfahren insoweit ohne weiteres erledigt und nur noch über die Kosten zu entscheiden.

Die Klage im Übrigen ist unbegründet. Der Bescheid des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg von Berlin vom 12. Mai 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 2021 ist, soweit er noch angefochten ist (vgl. zur Teilbarkeit einer Aufhebungsverfügung in Bezug auf den Aufhebungszeitpunkt BSG, Urteil vom 16. Dezember 2021 – B 9 SB 6/19 R – juris Rn. 21 ff.), rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Der Bescheid ist formell rechtmäßig. Zwar fehlte es an der nach § 24 Abs. 1 SGB X erforderlichen Anhörung – diese ist nur in Bezug auf den Ersatzzahlungsbescheid erfolgt –, jedoch ist dieser Fehler nach § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X im Widerspruchsverfahren geheilt worden. Die Klägerin hatte im Widerspruchsverfahren auch ohne gesonderten Hinweis auf ihre Äußerungsmöglichkeit Gelegenheit, sich zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern (vgl. hierzu OVG Bautzen, Beschluss vom 4. Juli 2018 – 5 D 72/17 – juris Rn. 7). Die Unterhaltsvorschussstelle hat sich auch nicht darauf beschränkt, die einmal getroffene Sachentscheidung zu verteidigen, sondern das Vorbringen der Klägerin erkennbar zum Anlass genommen, die Ausgangsentscheidung zu überdenken (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – 7 C 5.14 – juris Rn. 17). Sie hat auf den Widerspruch der Klägerin hin einen umfangreichen Fragenkatalog erarbeitet, dessen Beantwortung vom Kindesvater erbeten und danach ihre Sachentscheidung erneut geprüft.

2. Der Bescheid ist auch materiell rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die mit dem genannten Bescheid verfügte und nur noch mit Wirkung für die Zukunft im Streit stehende Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides – die zugleich erfolgte Mitteilung über eine Einstellung der Unterhaltsvorschussleistungen stellt keine eigenständige Regelung dar – ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen hier vor. Der Bewilligungsbescheid vom 26. März 2018 enthielt eine unbefristete Bewilligung von Unterhaltsvorschuss und ist ein Dauerverwaltungsakt (vgl. hierzu VG Dresden, Urteil vom 9. Juni 2021 – 1 K 1216/20 – juris Rn. 22; OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Juli 2019 – 4 PA 124/19 – juris Rn. 2, 4). Die ihm zu Grunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse haben sich ab dem hier nur noch streitigen Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungsbescheides vom 12. Mai 2021 – und im Übrigen bereits ab Oktober 2020 (dem für die weitere Klage der Klägerin zu VG 21 K 184/22 relevanten Zeitpunkt) – wesentlich geändert, weil die Klägerin seitdem nicht mehr „alleinerziehend“ ist. Wesentliche Voraussetzung für die Bewilligung von Unterhaltsvorschuss ist nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG, dass das Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes „bei einem seiner Elternteile“ lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von seinem Ehegatten oder Lebenspartner dauernd getrennt lebt, der Elternteil also „alleinerziehend“ ist. Hieran fehlt es seit Oktober 2020.

a. Ein Kind lebt „bei einem seiner Elternteile“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG, wenn es mit ihm eine auf Dauer angelegte häusliche Gemeinschaft unterhält, in der es auch betreut wird. Dem Sinn und Zweck des Unterhaltsvorschussgesetzes entsprechend ist dieses Merkmal nur erfüllt, wenn der alleinstehende leibliche Elternteil wegen des Ausfalls des anderen Elternteils die doppelte Belastung mit Erziehung und Unterhaltsgewährung in seiner Person zu tragen hat. Abgrenzungsprobleme entstehen, wenn das Kind regelmäßig einen Teil auch bei dem anderen Elternteil verbringt. Für die Beantwortung der Frage, ob das Kind in derartigen Fällen nur bei einem seiner Elternteile lebt, ist entscheidend auf die persönliche Betreuung und Versorgung, die das Kind bei dem anderen Elternteil erfährt, und die damit einhergehende Entlastung des alleinerziehenden Elternteils bei der Pflege und Erziehung des Kindes abzustellen. Trägt der den Unterhaltsvorschuss beantragende Elternteil trotz der Betreuungsleistungen des anderen Elternteils tatsächlich die alleinige Verantwortung für die Sorge und Erziehung des Kindes, weil der Schwerpunkt der Betreuung und Fürsorge des Kindes ganz überwiegend bei ihm liegt, so erfordert es die Zielrichtung des Unterhaltsvorschussgesetzes, das Merkmal „bei einem seiner Elternteile lebt“ als erfüllt anzusehen und Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz zu gewähren. Wird das Kind hingegen weiterhin auch durch den anderen Elternteil in einer Weise betreut, die eine wesentliche Entlastung des den Unterhaltsvorschuss beantragenden Elternteils bei der Pflege und Erziehung des Kindes zur Folge hat, ist das Merkmal zu verneinen. Das Vorliegen des Merkmals „bei einem seiner Elternteile lebt“ ist auf Grundlage einer umfassenden Würdigung des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei ist maßgeblich, welche Person die elementaren Lebensbedürfnisse des Kindes sichert und befriedigt, d.h. wer von den Elternteilen im Wesentlichen für die Pflege, die Verköstigung, die Kleidung, für die Ordnung und Gestaltung des Tagesablaufs sorgt und bei welcher Person das Kind im Wesentlichen seine emotionale Zuwendung erhält (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 11. Oktober 2012 – 5 C 20.11- juris Rn. 20 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 6 B 9.17 – juris Rn. 21; OVG Münster, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 12 A 1053/14 – juris Rn. 29).

Diese obergerichtlich aufgestellten und auch aktuell bestätigten (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 14. Januar 2022 – 12 B 1791/21 – juris Rn. 5 ff.) rechtlichen Maßstäbe tragen Sinn und Zweck des Unterhaltsvorschussgesetzes Rechnung. Die von der Klägerin geltend gemachte Rechtsprechung der Familiengerichte zum Weiterbestehen einer Unterhaltspflicht auch bei einem erweiterten Umgang des Kindesvaters mit dem Kind ist für das Unterhaltsvorschussgesetz nicht maßgeblich. Der Gesetzgeber hat auch trotz wiederholter Änderungen des Unterhaltsvorschussgesetzes – zuletzt mit Gesetzen vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2451) und vom 23. Mai 2022 (BGBl. I S. 760) – keinen Anlass gesehen, im Hinblick auf die bekannte unterhaltsvorschussrechtliche Rechtsprechung und die von der Klägerin letztlich erstrebten Änderungen oder Klarstellungen im Unterhaltsvorschussgesetz vorzunehmen.

Die Kammer hat mit Urteilen vom 21. Februar 2017 – VG 21 K 251.16 – (juris Rn. 17 ff.) und 27. September 2016 – VG 21 K 111.16 – (juris Rn. 27 ff.) den genannten, von der Rechtsprechung aufgestellten Maßstäben sowie einer aus Sicht der Kammer vergleichbaren gesetzgeberischen Wertung des § 5 Abs. 4 Satz 2 des Wohngeldgesetzes (vgl. zur Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/4897, S. 82 und BT-Drs. 16/6543, S. 91) einen quantitativen Umfang von mindestens einem Drittel der Betreuungszeit durch den anderen Elternteil entnommen, ab dem eine Alleinerziehung des den Unterhaltsvorschuss beantragenden Elternteils ausgeschlossen werden kann, wenn nicht besondere Betreuungsleistungen die fehlende Ein-Drittel-Schwelle kompensieren (in der Rechtsprechung wird ein Umfang von 37-40 % genannt, ab dem jedenfalls diese Grenze erreicht ist, vgl. OVG Münster mit Urteil vom 15. Dezember 2015 – 12 A 1053/14 – juris Rn. 36: 38 %, VGH München mit Beschluss vom 7. Februar 2006 – 12 ZB 04.2403 – juris Rn. 3: 40 %, VG Würzburg, Urteil vom 7. Juli 2011 – W 3 K 11.170 – juris Rn. 42: 37 %; Nummer 1.3.1 der Richtlinien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Unterhaltsvorschussgesetz sieht vor, dass jedenfalls Alleinerziehung gegeben ist, wenn das Kind bis zu einem Drittel der Zeit beim anderen Elternteil lebt, und darüber hinaus eine Einzelfallprüfung erforderlich ist). Es handelt sich dabei jedoch nur um einen Orientierungswert, entscheidend ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände.

Ob sich dabei für die mit dem Wegfall der bisher im Unterhaltsvorschussgesetz vorgesehenen Altersgrenze von 12 Jahren nunmehr in den Kreis der Anspruchsberechtigten einbezogenen älteren Kinder die „Gewichtung“ der oben dargestellten maßgeblichen Kriterien verändert hat, weil für Kinder zwischen der Vollendung des 12. und des 18. Lebensjahres in erster Linie darauf abzustellen sein könnte, wer die mit der Betreuung des Kindes verbundenen finanziellen Belastungen trägt (so die 6. Kammer des VG Münster mit Urteil vom 7. April 2021 – 6 K 1924/18 – juris Rn. 22 ff.; in diese Richtung bereits OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Juni 2019 – 6 B 8.18 – juris Rn. 15 ff.), bedarf hier keiner Entscheidung, weil hier der Finanzierungsanteil des Kindesvaters nicht anders zu bewerten ist als sein Betreuungsanteil und im Übrigen das Kind erst am 2. Juni 2021 das 12. Lebensjahr vollendet hat.

b. Nach den vorgenannten unterhaltsvorschussrechtlichen Maßstäben ist die Klägerin seit Oktober 2020 nicht mehr als alleinerziehend im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG anzusehen. Auf der Grundlage der übereinstimmenden Angaben der Kindeseltern zu den ab Oktober 2020 bestehenden Betreuungsverhältnissen – hiernach übernimmt der Kindesvater die Betreuung in den ungeraden Kalenderwochen von Donnerstag nach Schulschluss bis Montag zum Schulbeginn sowie in den geraden Kalenderwochen von Mittwoch nach Schulschluss bis Donnerstag zum Schulbeginn – ergibt sich ein Betreuungsanteil des Kindesvaters von 4 Tagen/Nächten pro Woche in den ungeraden Kalenderwochen und 1 Tag/Nacht in den geraden Kalenderwochen, im Durchschnitt also 2 ½ Tagen/Nächten pro Woche und damit der von der Unterhaltsvorschussstelle bereits errechnete Anteil von 35,70 % pro Woche. Der Orientierungswert von einem Drittel ist damit erreicht. Eine Berechnung nach exakten Anwesenheitsstunden im Haushalt des Kindesvaters, wie sie die Klägerin mit Schriftsatz vom 11. Februar 2022 geltend macht, ist jedenfalls in Fällen einer tageweisen Wechselbetreuung wie hier nicht vorzunehmen, weil sie der gebotenen Betrachtung des Betreuungszusammenhangs im Alltag nicht gerecht wird. Abgesehen davon, dass die Aufenthaltszeiten des Kindes in der Schule auch bei den Betreuungstagen der Klägerin „herauszurechnen“ wären, berücksichtigt der Einwand der Klägerin nicht, dass auch während der Schultage eine Betreuungsbereitschaft für kurzfristige Erkrankungen oder anderweitige Angelegenheiten bestehen muss. Die Betreuungsintensität hängt zudem von äußeren Umständen und vom subjektiven Empfinden des jeweiligen Elternteils und den Bedürfnissen und Vorstellungen des jeweiligen Kindes und der individuellen Gestaltung der Betreuungszeiten ab. Je nach Jahreszeit, Wetter, Gemütslage, schulischen Bedürfnissen, anstehenden Sport- oder sonstigen Wettbewerben, anderweitiger Einbindung des Kindes oder des Elternteils kann die Betreuung an manchen Tagen oder während mancher Phasen intensiver oder weniger intensiv ausfallen, gleich ob an Wochen- oder Wochenendtagen (vgl. zu Vorstehendem OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Dezember 2018, a.a.O., Rn. 29, 32). Wie die in der mündlichen Verhandlung angesprochene Homeschooling-Situation belegt, beschränkt sich die Betreuungsübernahme für einen Schultag nicht nur auf die Zeit nach einem regulären Schulschluss (15 Uhr) und bis zu einem regulären Schulbeginn (8 Uhr). Aufgrund der gebotenen Sichtweise des Betreuungszusammenhanges des Alltags ist die Betreuungsübernahme für einen Schultag mit Übernachtung daher stets als 1 Tag/Nacht anzurechnen, auch wenn die Schule erst um 15 Uhr beendet und am nächsten Tag schon um 8 Uhr wieder beginnen sollte.

Die vom Kindesvater erbrachten Betreuungsleistungen haben auch keine „mindere Qualität“ gegenüber der von der Klägerin erbrachten Betreuungsleistungen (vgl. zu dieser Prüfung OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Dezember 2018, a.a.O., Rn. 25). Nach den Angaben des Zeugen mit Email vom 25. Juli 2021 und in der mündlichen Verhandlung, die von der Klägerin nicht in Abrede gestellt worden sind, wird das Kind von ihm während seiner Betreuungstage vollständig (hauswirtschaftlich) versorgt und ist in den Haushalt des Zeugen und dessen Lebensgefährtin integriert einschließlich Freizeitaktivitäten und nach Bedarf schulischer Betreuung. Mit dem auf den Zeugen entfallenden Betreuungsanteil – 4 Tage/Nächte pro Woche in den ungeraden Kalenderwochen und 1 Tag/Nacht in den geraden Kalenderwochen, im Durchschnitt also 2 ½ Tage/Nächte pro Woche – tritt auch eine wesentliche Entlastung der Klägerin bei der Betreuung des Kindes ein, auch wenn die Klägerin sämtliche Arztbesuche übernimmt und den überwiegenden Teil der Elternabende wahrgenommen hat. Während dieser Tage ist die Klägerin nicht der mit einer Alleinerziehung typischerweise verknüpften Doppelbelastung ausgesetzt, kann sie uneingeschränkt beruflichen Tätigkeiten nachgehen sowie sonstigen Verpflichtungen, Obliegenheiten, sozialen und sonstigen Aktivitäten, ohne sich zugleich um das (gemeinsame) Kind kümmern zu müssen. Dies auf einer (seit Oktober 2020) regelmäßigen und nicht lediglich sporadischen Basis, was ihr eine verlässliche und insoweit von dem (gemeinsamen) Kind unabhängige Lebensplanung ermöglicht (vgl. zu den vorgenannten Aspekten OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Dezember 2018, a.a.O., Rn. 26; ferner VG Münster mit Urteil vom 17. April 2012 – 6 K 103/11 – juris Rn. 22). Der jeweilige Anteil an der Finanzierung des Lebensunterhaltes des Kindes führt zu keiner anderen Bewertung. Zwar ist anstößig und möglicherweise auch strafrechtlich vorwerfbar, dass der Zeuge keinen Kindesunterhalt zahlt, obwohl er dies trotz angemeldeter Privatinsolvenz in Höhe von 243 Euro monatlich könnte, wie er in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat. Jedoch übernimmt der Zeuge, wie die Klägerin zugestanden hat, während seiner Betreuungstage den Lebensunterhalt für das Kind, das Kind erhält von ihm auch Kleidung, Handy, im jeweils laufenden Schuljahr nach Bedarf Schulmaterialien und teilweise Kostenerstattung für Sportverein und Schulfahrten. Vor diesem Hintergrund entspricht der Finanzierungsanteil dem Betreuungsanteil; die Klägerin ist auch insoweit nicht (mehr) der mit einer Alleinerziehung typischerweise verknüpften Doppelbelastung ausgesetzt.

c. Da eine Aufhebung nicht mehr mit Rückwirkung, sondern nur noch für die Zukunft im Streit steht, kommt es nicht mehr darauf an, dass die Klägerin gegen ihre Pflicht aus § 6 Abs. 4 UVG verstoßen hat.

Die Berufung war zuzulassen zur (weiteren) grundsätzlichen Klärung des Begriffs der Alleinerziehung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3, 161 Abs. 2 VwGO – der erledigte Teil des Verfahrens fällt kostenmäßig nicht ins Gewicht, weil die Unterhaltsvorschussstelle mit dem angefochtenen Bescheid keine Rückforderung vergangener Unterhaltsvorschussleistungen verfügt hat, sondern hierzu den gesondert angefochtenen Ersatzzahlungsbescheid erlassen hat –, die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 1 und 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

VG Berlin, Urteil vom 05.07.2022
21 K 792/21

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