Benachrichtigungen
Alles löschen

sinnlose Härten bei Hartz IV

 
(@Ayuda)

DIE ZEIT

33/2004

Die sinnlosen Härten von Hartz

Stur und fahrig: So gefährdet Rot-Grün die eigene Reform

Von Kolja Rudzio

Diese Regierung macht alles richtig – sofern sie die größtmögliche Verunsicherung verbreiten will. Obwohl seit Monaten absehbar ist, dass die letzte Stufe der Hartz-Reform umso mehr Proteste auslösen wird, je näher die mit ihr verbundenen Einschnitte rücken, leistet sich Rot-Grün nun auch noch eine wirre Debatte um den ersten Zahltag für die neue Stütze.

Wer Ende Dezember zum letzten Mal Arbeitslosenhilfe bekommt, soll das neue ArbeitslosengeldII, das wie die Sozialhilfe immer zum Monatsbeginn gezahlt wird, erst Anfang Februar erhalten. Mit diesem Plan entfachte Wirtschaftsminister Wolfgang Clement einen Sturm der Entrüstung. Nach endlosem Hin und Her kündigte die Regierung schließlich an, die Regelung zu überdenken.

Abgesehen davon, dass Richter am Bundesverwaltungsgericht die Zahlungspause als rechtswidrig kritisieren, zeugt der Plan von fehlender Sensibilität. Angesichts der Härten, die diese Reform den Langzeitarbeitslosen zumutet, ist es unverständlich, warum der Übergang ins neue System so unvorteilhaft wie möglich gestaltet werden muss. Insbesondere wenn dazu so erbärmliche Rechtfertigungen nachgeschoben werden wie: Wer im Januar kein Geld erhält, kassiert dafür ja bei der Rückkehr in einen Job einen Monat eventuell doppelt. Wenn das Geld sowieso ausgezahlt werden soll, warum dann nicht gleich?

Das Traurige ist, dass diese Reform an sich sinnvolle, ja sogar überfällige Veränderungen enthält: die Stilllegung der Verschiebebahnhöfe zwischen Sozial- und Arbeitsämtern, die intensivere Betreuung, die besseren Zuverdienstmöglichkeiten oder auch die Kappung der praktisch lebenslang an ein einmal erzieltes Einkommen gekoppelten Arbeitslosenhilfe.

Bloß leistet sich die Regierung an jedem dieser Punkte jene »handwerklichen Fehler«, die schon zum Synonym für ihr Reformgebaren geworden sind. Und sie mutet den Betroffenen unnötige Härten zu. Die Hartz-Reformer hätten einfachere und großzügigere Regeln schaffen sollen – etwa höhere Freibeträge und Übergangsfristen bei der Anrechnung von Vermögen und Lebensversicherungen, klare und ebenfalls zeitlich abgepufferte Bestimmungen zum »angemessenen« Wohnraum« oder wirklich attraktive Zuverdienstmöglichkeiten. Vor allem hätten sie erst einmal sicherstellen müssen, dass genug ausgebildete Betreuer auf die Arbeitslosen warten.

Wenn nun aber die Opposition – die mit Ausnahme der PDS an dem Projekt mitgewirkt hat – die Verschiebung von HartzIV fordert, ist das scheinheilig und unrealistisch. Jetzt bleibt nur noch eines: Regierung und örtliche Behörden müssen bei der Anwendung der neuen Regeln großzügig sein. Einige der schlimmsten Hartz-Horrorszenarien ließen sich so vermeiden. Aber dafür braucht man mehr Fingerspitzengefühl, als diese Regierung letzthin bewiesen hat.

Zitat
Themenstarter Geschrieben : 16.08.2004 00:53
(@Ayuda)

:gunman: :gunman: :gunman: :gunman: :gunman: :gunman: :gunman:
Die Erben von Langzeitarbeitslosen müssen das an den Verstorbenen
gezahlte Arbeitslosengeld II zurückzahlen. Das bestätige der Sprecher
des Bundeswirtschaftsministeriums, Steffen Moritz, auf Anfrage von MDR.DE.

hier gehts weiter zum vollstaendigen artikel:
http://www.mdr.de/nachrichten/schwerpunkt/1542919.html

AntwortZitat
Themenstarter Geschrieben : 18.08.2004 00:17
(@Ayuda)

:gunman: :gunman:
DIE ZEIT

52/2004

Wie aus mehr weniger wird

Die Bundesregierung benutzt Hartz IV, um klammheimlich die Sozialhilfe zu senken

Von Marie-Luise Hauch-Fleck

Eigentlich müsste Herr P. sich auf das neue Jahr freuen. Denn wenn er am 1. Januar aufwacht, wird aus ihm, dem Sozialhilfeempfänger, ein Kunde der Bundesagentur für Arbeit geworden sein – mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Das heißt, er bekommt mehr Geld: Statt bisher 475,25 Euro stehen ihm und seiner 13-jährigen Tochter dann monatlich 530 Euro zu. Aufs Jahr gerechnet, ist das ein Plus von 657 Euro, viel Geld für jemanden, der mit jedem Cent rechnen muss.Der Gang zum <strong>SOZIALAMT,</strong> wie hier in München, kann im nächsten Jahr böse Überraschungen bringen© Falk Heller / argum BILD

Erstaunlich nur: Herr P. freut sich kein bisschen. Akribisch, wie er ist, hat er alles sorgfältig durchgerechnet. Und dabei festgestellt, dass ihm und seiner Tochter im nächsten Jahr nicht 657 Euro mehr, sondern rund 1232 Euro weniger zum Leben bleiben.

Die Berechnung schien Guido Kläser, dem Leiter des Erfurter Amtes für Sozial- und Wohnungswesen, das Herrn P. betreut, ziemlich absurd. Deshalb wies er einen Mitarbeiter an, die Angaben Punkt für Punkt zu überprüfen. Das Ergebnis hat Kläser total überrascht: »Alles, was Herr P. berechnet hat, stimmt.«

Dass selbst ein Experte wie Kläser die finanziellen Folgen von Hartz IV für die Betroffenen nicht überschaut, ist allerdings nicht so erstaunlich. Bislang wird die Sozialhilfe nämlich in laufende und einmalige Leistungen zum Lebensunterhalt unterteilt. Die laufenden Leistungen beispielsweise für Essen, Trinken oder Haushaltsführung werden durch den so genannten Regelsatz abgedeckt (Wohnungs- und Heizkosten werden bei der Sozialhilfe wie auch beim ArbeitslosengeldII zusätzlich übernommen). Die einmaligen Leistungen hingegen müssen individuell beantragt werden. Dazu gehört Geld für Kleidung, Schulbücher oder Ranzen, für Haushaltsgeräte, Fahrräder oder die Reparatur von Elektrogeräten. Extraunterstützung gibt es zudem für Weihnachten und besondere Ereignisse wie Beerdigungen oder Taufen. Wie viel Unterstützung Sozialhilfeempfänger zusätzlich zum Regelsatz von derzeit durchschnittlich 291 Euro erhalten, hängt demnach vom individuellen Bedarf ab. Wer beispielsweise keine Kinder hat, die in die Schule gehen, muss auch keinen Ranzen kaufen. Und wer gerade einen Herd bekommen hat, wird voraussichtlich auch so schnell keinen neuen brauchen.

Doch mit dieser, am Einzelfall orientierten Hilfe ist im neuen Jahr Schluss. Von Anfang Januar an gibt es nur noch einen so genannten pauschalierten Regelsatz. Der ist für Arbeitslosengeld-II- und Sozialhilfeempfänger gleich hoch und muss für alle Ausgaben reichen. Nur für wenige Fälle gibt es noch Sonderleistungen: etwa bei Schwangerschaft, der Ersteinrichtung einer Wohnung oder bei längeren Klassenfahrten. Diese Neuregelung verbessere, so verkündete das zuständige Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMSG) in einer Pressemitteilung, »die Situation der betroffenen Menschen«. Schließlich, so das Argument, seien alle wesentlichen einmaligen Leistungen bei der Neuberechnung pauschal berücksichtigt. Entsprechend größer sei zukünftig auch die Freiheit der Empfänger, selbst über die Verwendung des Geldes zu bestimmen. Vergleicht man die alten und neuen Regelsätze, erscheint dieses Argument auf den ersten Blick durchaus plausibel. Immerhin wird der Regelsatz von derzeit durchschnittlich 295 auf 345 Euro (West) beziehungsweise von 285 auf 331 Euro (Ost) erhöht.

»Die Infamie des Verfahrens wird nur dem deutlich, der tagelang rechnet«

Es klingt paradox. Aber tatsächlich bedeutet das Mehr für viele ein deutliches Weniger, wie nicht nur die Fleißarbeit des Erfurter Sozialhilfeempfängers belegt. Rot-Grün habe die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe dazu genutzt, den »Regelsatz ganz gezielt runterzurechnen«, kritisiert Matthias Frommann, Rechtsprofessor an der Fachhochschule Frankfurt. Im Klartext: Sozialhilfeempfänger werden keineswegs generell besser, sondern viele Arbeitslosengeld-II-Bezieher werden sogar schlechter gestellt sein, als sie es bisher mit der Sozialhilfe waren – »ohne dass ihnen das auch nur angekündigt wird«, empört sich Helga Spindler, Jura-Professorin an der Universität Essen. Die Festsetzung des Existenzminimums sei, das räumt die Sozialhilfeexpertin ein, letztlich eine sozialpolitische Entscheidung. Aber wer es kürzen wolle, solle das offen ausweisen und zur Diskussion stellen, fordert sie.

Genau das aber macht Rot-Grün nicht. Denn obwohl der Regelsatz de facto das Mindesteinkommen definiert, das für ein menschenwürdiges Leben nötig ist und seine Festlegung, so Spindler, »das Fundament des sozialen Rechtsstaates berührt«, setzte die Regierung ihn unter Ausschluss der Öffentlichkeit fest. Nicht einmal Parlamentarier der Regierungsfraktion waren beteiligt. »Das lief in einem eher klandestinen Verfahren ab«, sagt Markus Kurth, sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion.

Dabei sind die Kürzungen so drastisch, dass Ralf Rothkegel, Richter am Bundesverwaltungsgericht, Bedenken hat, ob der Staat noch seiner Verfassungsaufgabe gerecht wird, »die Mindestvoraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu sichern«. Es gebe, warnt Rothkegel in einem Fachaufsatz, »verschiedene Gründe, daran zu zweifeln, dass die neuen Regelsätze dem Verfassungsgebot einer ausreichenden Existenzsicherung genügen werden«.

Dass dies bislang nur eine Hand voll Sozialhilfeexperten überhaupt gemerkt hat, ist kein Zufall: Konkrete Angaben beispielsweise, wie die bisherigen einmaligen Leistungen in die neuen Sätze eingerechnet sind, hält die Regierung unter Verschluss. »Die Infamie des Verfahrens wird nur dem deutlich, der sich zwei, drei Tage hinsetzt und alles durchrechnet«, kritisiert Matthias Frommann die Vernebelungstaktik.

Die Mühe hat der Frankfurter Professor jedoch nicht gescheut und ist dabei auf haarsträubende Ungereimtheiten gestoßen: Laut Gesetz muss der Regelsatz so bemessen werden, dass er ausreicht, um den »notwendigen Lebensunterhalt«, das heißt Ausgaben für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat sowie »in vertretbarem Umfang« auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben zu ermöglichen. Bei Kindern gehört dazu auch der durch »ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen« bedingte Bedarf.

Als Maßstab für die Ermittlung dieser Bedarfe dienen die Konsumausgaben jener 20 Prozent bundesdeutscher Haushalte mit den niedrigsten Einkommen, die das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre in der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe ermittelt. So jedenfalls steht es im Gesetz. Tatsächlich aber hat die Regierung nicht diese Ausgaben zugrunde gelegt, sondern nur die von Einpersonenhaushalten. Mit gravierenden Folgen, wie die Berechnungen von Matthias Frommann zeigen. Denn die Ausgaben pro Kopf der Einpersonenhaushalte sind deutlich niedriger als die der Haushalte mit geringem Einkommen insgesamt. Bei Bekleidung und Schuhen beispielsweise beträgt die Differenz rund 57 Prozent, bei den Nahrungsmitteln, Getränken und Tabakwaren immerhin noch 28 Prozent.

Leisten sich Geringverdiener wirklich Boote und Segelflugzeuge?

Doch selbst diese niedrigeren Werte hat die Regierung kräftig gestutzt – und zwar dadurch, dass die Ministerialen die erhobenen Ausgaben nach eigenem Gusto als »regelsatzrelevant« anerkennen oder eben auch nicht. Dass diese Einschätzung rein subjektiv geschieht, räumt das zuständige BMSG offen ein: »Ein objektives, allgemein anerkanntes Raster steht hierfür nicht zur Verfügung, sodass Einschätzungen und Bewertungen erforderlich sind«, heißt es in der Begründung der Regelsatzverordnung.

So kommt es, dass beispielsweise der Posten Bekleidung von den Bürokraten lediglich mit 89 Prozent in den Regelsatz einfließt. Die erstaunliche Begründung in der Verordnung: Bei dieser Position seien ja auch Ausgaben für Maßkleidung und Pelze enthalten. Ähnlich skurril: Den Posten Freizeit, Unterhaltung und Kultur rechnen die Experten von 86 Euro auf 36 Euro herunter, weil sie dort unter anderem Ausgaben für Sportboote und Segelflugzeuge vermuten. Die 36 Euro müssen etwa für Zeitschriften und Bücher, Rundfunk- und Kabelgebühren oder auch Schreibwaren und Musikinstrumente reichen. Selbst Haustiere gelten den Beamten als Luxus, der Sozialhilfeempfängern nicht zusteht: Den Posten (4 Euro) haben sie gestrichen. Warum aber »ein Wellensittich, Hamster, Hund oder eine Hauskatze« nicht zu einer Lebensführung gehören soll, die, laut Rechtsprechung, »der eines Nicht-Bedürftigen in einer unteren Einkommensgruppe ähnlich ist«, ist für Matthias Frommann »unerfindlich«. Nach seiner Rechnung müsste der Regelsatz, wenn man nur die nachweisbar nicht regelsatzrelevanten Ausgaben abziehen würde, 30 Prozent höher sein: Statt 345 Euro wären es 448 Euro.

Auch für Ralf Rothkegel sind die Kürzungen wenig überzeugend. »Die Forderung: Kein Platz im Regelsatz – Segelflugzeuge müssen draußen bleiben« sei gewiss konsensfähig, spottet der Richter über die ministeriale Rechnerei. Doch was »ist das für statistisches Material, das bei Geringverdienern einen signifikanten Konsum von Luxusgütern belegt?«, wundert er sich.

Dass mit den neuen Sätzen kaum »gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen« geschaffen werden, wie dies das Sozialgesetzbuch in Paragraf I als Ziel formuliert, dürfte auch den Experten im Ministerium klar gewesen sein. Doch die hatten eine klare Vorgabe: Am Ende musste ihre Rechnerei 345 Euro für den Sozialhilferegelsatz ergeben. Denn so viel sieht Hartz IV als Regelleistung für das Arbeitslosengeld II vor. Das Gesetz allerdings war schon Monate vor der Neuberechnung der Sozialhilfesätze verabschiedet worden. Höher als das »ALG II« durften die in keinem Fall sein, schließlich definieren sie das Existenzminimum.

AntwortZitat
Themenstarter Geschrieben : 17.12.2004 21:33
(@Ayuda)

Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe um 19 Prozent zu niedrig

Paritätischer Wohlfahrtsverband wirft

Bundesregierung geschönten Umgang mit Statistik vor

Der Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) wirft der Bundesregierung

bei der Berechnung des Regelsatzes von Sozialhilfe und

Arbeitslosengeld II einen manipulativen und unseriösen Umgang mit

den statistischen Grundlagen vor. Ziel sei es allein gewesen, die

Ansprüche der Hilfsbedürftigen klein zu rechnen, kritisierte der

Verband am Montag in der Berliner Bundespressekonferenz.

Sozialhilfe, Sozialgeld und Arbeitslosengeld II seien um fast ein

Fünftel zu niedrig bemessen, um die 4,6 Millionen Betroffenen vor

Armut zu schützen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert eine Erhöhung der

Sozialhilfe und des Arbeitslosengeldes II um 19 Prozent. Der von

Januar 2005 an geltende Sozialhilferegelsatz müsse von 345 Euro

auf 412 Euro angehoben werden. Der in den neuen Bundesländern

geltende Regelsatz von 331 Euro solle zudem dem Westniveau

angeglichen werden.

Der Verband legte mit einer Expertise ausführliches Zahlenmaterial

vor, mit dem er seine Vorwürfe gegenüber der Bundesregierung

detailliert begründet.

„Wir brauchen Regelsätze, die ein Leben ohne Armut ermöglichen“,

betonte Barbara Stolterfoht. „Was wir haben, sind Regelsätze, die

Armut festschreiben und verschärfen.“ Schulkinder bekämen nach

den neuen Regelsätzen künftig monatlich für Schulmaterialien

beispielsweise nur 1,33 Euro, für Spielzeug und Hobbyartikel

stünden 1,56 Euro zur Verfügung, erklärte die Verbandsvorsitzende.

„Wer glaubt, damit könne man auskommen, ist lebensfremd.“

Anders als von der Bundesregierung behauptet habe die große

Mehrheit der künftigen Arbeitslosengeld II-Bezieher künftig nicht

mehr Geld zur Verfügung, sagte Verbandsvorsitzende Barbara

Stolterfoht. Insbesondere Kinder im Alter von acht bis 14 Jahren und

Jugendliche über 14 Jahren gehörten zu den Verlierern der neuen

Regelsatzverordnung. Sie müssten Kürzungen von 10,5 und 12,5

Prozent in Kauf nehmen.

Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des DPWV, wies darauf

hin, dass die Zahl der auf Sozialhilfeniveau lebenden Kinder durch

Hartz IV im Laufe des Jahres 2005 von jetzt 1,1 Millionen auf über

1,5 Millionen steigen werde, wenn es nicht gelinge, die Betroffenen

Haushalte zügig in Arbeit zu bringen. Damit wäre jedes zehnte Kind

in Deutschland unterhalb der Armutsschwelle. Schneider

bezeichnete die Regelsatzverordnung als „Dokument der

Ausgrenzung“. Er forderte, der besondere Bedarf von Kindern und

Jugendlichen müsse untersucht werden.

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes

forderte zudem eine öffentliche Debatte über die Höhe des

Sozialhilferegelsatzes. Angesichts seiner enormen Bedeutung müsse

seine Festlegung in die Kompetenz des Gesetzgebers fallen und

dürfe nicht weiterhin in Hinterzimmern von Ministerien bestimmt

werden. Schneider: „Der Sozialhilferegelsatz hat eine zentrale

Bedeutung: Über die Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld II hinaus

ist er unter anderem auch Bemessungsgrundlage für die

Grundsicherung, Pfändungsfreigrenzen und die Höhe der

Steuerfreibeträge.“

(Die Expertise des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – erstellt von Dr. Rudolf

Martens – und die Statements von Stolterfoht und Schneider können von der

Homepage www.paritaet.org unter der Rubrik Aktuelles herunter geladen werden.

Die Broschüre kann zudem bestellt werden unter Tel.: 030/246 36 414 oder

info@paritaet.org)

Berlin, 20. Dezember 2004

Ansprechpartner: Dr. Ulrich Schneider, Tel.: 030/246 36 302

oder Ulrike Bauer, Tel.: 030/246 36 304

:crash: :crash: :crash: :crash: :crash: :gunman: :gunman: :gunman:

AntwortZitat
Themenstarter Geschrieben : 23.12.2004 01:14
(@Ayuda)

DIE ZEIT

03/2005

Jeder kämpfe für sich

Welches Menschenbild hat die »Reformpolitik«? Auf welche Werte bauen wir? Was heißt es, Bürger zu sein, wie teuer ist uns die Demokratie? Drei Bücher analysieren den Umbau des Sozialstaates

Von Mathias Greffrath

Deutschland ist ein Standort. Und eine Republik. Und ein Sozialstaat. Wir arbeiten auf Märkten, wir leben in solidarischen Zusammenhängen, wir sind Mitglieder einer Republik, deren Verfassung ihren Bürgern »gleichwertige« und »einheitliche Lebensverhältnisse« garantiert. Es ist keine Neuigkeit, dass diese historische Errungenschaft bedroht ist. Unter den Bedingungen transnationaler Produktion und unregulierter Weltmärkte spaltet sich die »Volkswirtschaft«: in einen hoch konzentrierten internationalen Sektor mit reichen Eliten; eine Neue Mitte, die dieser globalen Wirtschaft zuarbeitet, staatliche und lokale Dienstleistungen erbringt und zunehmend unter Druck gerät; schließlich: die Unterwelt der »Überflüssigen«. In Deutschland konturiert ein Reformpaket aus Steuersenkungen und Hartz-Gesetzen diese Dreiteilung der Gesellschaft: Es begünstigt die kapitalintensiven Exportindustrien, und es stabilisiert – vorerst – die Belastungen der Neuen Mitte, indem es die Kosten für die »Überschüssigen« senkt. © Günter Menn; Agentur Focus BILD

Das Fazit von Müllers ökonomischen Alphabetisierungsbemühungen: Der »Umbau« des Sozialstaates wird dessen Abbau beschleunigen. Wenn die beschworene Superkonjunktur ausbleibe, bestehe die Gefahr, dass Haushaltskürzungen die Binnenwirtschaft weiter ausbremsen könnten und die Zahl der Sozialstaatsklienten weiterwachse, mit der Folge, dass weniger Beschäftigte Beiträge zahlen, die sozialstaatlichen Programme noch teurer werden, mit der Folge weiterer Kürzungen und dem Ausschluss von immer mehr Bürgern aus dem Solidarsystem der Arbeitsgesellschaft – kurz: eine Spirale nach unten. Aber was wäre die Alternative?

Müller und andere Dissidenten fordern kräftige staatliche Investitionen zur Ankurbelung der Konjunktur, weiter den Ausbau der Bildung, eine stärkere Besteuerung der kapitalintensiven Exportindustrie, höhere Löhne zur Belebung des Binnenmarktes. Schließlich: eine Rückkehr zur Politik der Arbeitszeitverkürzung, mit der bis in die siebziger Jahre hinein die technologisch bedingte Arbeitslosigkeit erfolgreich aufgefangen wurde. Das klingt vernünftig und vertraut. Aber genau dies sei nicht praktikabel, sagen Politiker wie Wolfgang Clement: »Die räuberische Weltwirtschaft kann nicht in die nationale Kiste zurückgelegt werden.« Sozialökonomische Vernunft und Globalisierungsdynamik stehen im Widerspruch, und sie drohen die Sozialdemokratie zu zerreißen.

Die Sozialdemokratie steht – wie lange wohl noch? – an einem historischen Scheideweg: zwischen der Anpassung an die Logik reiner Märkte, gemildert durch das Phantasma einer kommenden Großkonjunktur (für die es keine Indizien gibt) – und der Mühe, jene Rahmenbedingungen anzugreifen, welche die nationalen Arbeits- und Sozialpolitiken zu zerreiben drohen. Soziale Marktwirtschaft ist heute nur international möglich: wenn die Finanzmärkte wieder reguliert, die Privatisierungspolitik der Welthandelsorganisation revidiert, die Zentralbanken stärker auf eine aktive Beschäftigungspolitik verpflichtet werden (was der Maastricht-Vertrag möglich macht) und zumindest ein europäisches Steuersystem durchgesetzt wird.

Für solche Vorstöße aber steht derzeit keine politische Kraft zur Verfügung. Auf dem Markt der Ideen dominiert, hoch subventioniert, ein Menschenbild, das nur den Marktteilnehmer kennt und keine Bürger mehr. Der katholische Wirtschaftsethiker Friedhelm Hengsbach zeichnet in seinem Buch Das Reformspektakel diesen intellektuellen Schrumpfprozess: als Bestandteil des »30-jährigen Feldzugs« einer »informellen Koalition« von wirtschaftlichen, publizistischen und politischen Eliten gegen den Sozialstaat. Wenn die Politik alternativlos daherkommt, muss sie also von außen belagert werden: mit Kräften, die sich aus den Arsenalen immer noch tief sitzender historischer und moralischer Überzeugungen bestücken. Der Jesuit Hengsbach führt die Gerechtigkeitsvorstellungen der bürgerlichen Tradition, der katholischen Soziallehre und der Sozialdemokratie ins Feld. In einer globalisierten Wirtschaft mit ihren Verwerfungen müsse der Staat umso »mehr Gerechtigkeit schaffen«, es sei seine Aufgabe, »die Primärverteilung zu korrigieren« und alle Bürger mit allem auszustatten, »das zu einem menschenwürdigen Leben erforderlich ist, einem soziokulturellen Minimum, einem gesunden Leben, einer angemessenen Wohnung, Arbeit und Bildung«. Ohne diese Grundsicherheiten seien Menschen nicht in der Lage, ihre Freiheitsrechte auszuüben. Es stehe mehr als nur Wohlstand auf dem Spiel.

»Die Verteidigung des Sozialstaats ist die Verteidigung der Demokratie«, mit diesem Kampfruf endet auch Gabriele Gillens Streitschrift Hartz IV – eine Abrechnung. Die Kölner Journalistin prüft die doppelten Buchführungen der Reformpolitiker. So kontrastiert sie die hoch gefeierte Zahl von 176000 Minijobs (aus denen den Arbeitnehmern keine Rentenansprüche erwachsen) mit den 227000 sozialversicherten Arbeitsplätzen, die gleichzeitig allein im Einzelhandel verschwanden. Sie bilanziert die Jubelmeldungen über die angeblich beschäftigungssichernde Abschaffung der 35-StundenWoche im Handy-Werk von Siemens: 800 Leiharbeiter verloren so ihren Job. Sie sitzt am Küchentisch des alleinerziehenden Sozialhilfeempfängers und geht das Budget durch, das in diesem Jahr um 980 Euro schrumpft, und springt dann in die Gesamtbilanz: Sechs Milliarden Euro jährlich sparen Bund und Kommunen bei den Arbeitslosen ein – und sechs Milliarden gewinnen die Reichen gleichzeitig durch die Senkung des Spitzensteuersatzes. Die Armutsgrenze liegt gemäß der EU-Norm bei 730 Euro – im Westen Deutschlands aber liegt die Regelleistung von Arbeitslosengeld II plus Miete bei 662 Euro. »Armut per Gesetz«, die Parole der Harz IV Demonstranten, hat eine reale Grundlage.

Der entfesselte Neoliberalismus wird einen Rumpfstaat zurücklassen

Gillens Buch ist gut recherchiert bis zur Schmerzgrenze, polemisch – und moralisch: Wenn beispielsweise Kurt Biedenkopf die Armen in Amerika preist, die drei Jobs zum erbärmlichen Leben brauchen, weil sie so doch wenigstens »motiviert« werden, dann erinnert die Journalistin an die fette »Sozialmiete« des kleinen sächsischen Königs; sie macht die Kollegin bei der Financial Times Deutschland nieder, die Hartz IV als »notwendigen Tritt in den Arsch der Arbeitslosen« gepriesen hat; sie erzählt von dem Leiter des Instituts der Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer, der da meinte, bei gleichen Startchancen würden »die geistigen oder charakterlichen Schwächen der überwiegenden Mehrzahl der Durchschnittlichen und Unterdurchschnittlichen mit brutaler Nacktheit als Ursache des verlorenen Rennens enthüllt«. Und sie bringt die Bürokratenlogik der »Bedarfsgemeinschafts«-Kriterien für Alg-II-Bezieher auf den Punkt: »Hartz IV favorisiert einen Menschentyp, der als Einzelkämpfer durchs Leben läuft … Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Binden Sie sich an niemanden, vor allem teilen Sie nie eine Wohnung mit einem anderen Menschen. Irgendwann entpuppt sich Ihr Partner als Versagermodell, und Sie sollen dann für diesen Menschen nicht nur Achtung, sondern auch noch Ihr Erspartes aufbringen? Machen Sie für den Rest Ihres Lebens den One-Night-Stand zum Lebensprinzip. Trennung vor dem Frühstück, damit Ihr Fall-Manager bloß nicht auf den Gedanken kommt, dass Sie beim anschließenden Aids-Test für die Praxisgebühr Ihres Sexualpartners aufkommen müssen.«

Gillen präsentiert eine Collage, die informativ ist und temperamentvoll – Aufklärung über den Zusammenhang von Globalisierung und Sozialstaatsschwund, Pressekritik, Kurzreportagen, satirische Briefe an Unternehmer, wahlweise an Grüne, die ihr »Klopapier von Manufactum« beziehen und nur noch eine Angst haben: als »strukturkonservativ« zu gelten. Es gibt präzise Detailaufnahmen der Ungleichheit und Kritik an der Weltwirtschaftsordnung: »Die Nation wird geschwächt, weil die Internationalisierung das Kapital stärkt. … Zurücklassen wird der entfesselte Neoliberalismus einen Rumpfstaat, in dem es vielleicht noch eine Art öffentlicher Armenpflege auf Suppenküchenniveau, öffentliche Schulen für die Alphabetisierung des gemeinen Volkes und massenhaft Ordnungskräfte gibt. Wie in den USA.«

Kassandrarufe? Sicherlich. Aber die Symptome sind unbestreitbar: Die politischen Zivilisationen rutschen ab. Die Verwerfungen der globalisierten Wirtschaft und das Ende der nationalen Volkswirtschaft bedrohen die Balance zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, zwischen dem Homo oeconomicus, dem zur Moral begabten Menschen und dem Republikaner in uns. »Wer ist noch ›wir‹?«, fragte der amerikanische Arbeitsminister Robert Reich schon vor fünfzehn Jahren, »was schulden wir einander als Bürger derselben Gesellschaft, die nicht länger eine und dieselbe Wirtschaft bewohnen?« Die Frage ist nicht weniger dringlich als damals.

Albrecht Müller: Die ReformlügeVierzig Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren; Droemer, München 2004; 416 S., 19,90 €Friedhelm Hengsbach: Das ReformspektakelWarum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient; Herder spektrum, Freiburg 2004; 190 S., 9,90 €Gabriele Gillen: Hartz IV – eine AbrechnungRowohlt, Reinbek 2004; 254 S., 7,90 €Die ReformlügeBelletristikVierzig Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinierenAlbrecht MüllerBuchDroemer2004München19,90416Das ReformspektakelBelletristikWarum der menschliche Faktor mehr Respekt verdientFriedhelm HengsbachBuchHerder spektrum2004Freiburg9,90 190Hartz IV – eine AbrechnungBelletristikGabriele GillenBuchRowohlt2004Reinbek7,90254

AntwortZitat
Themenstarter Geschrieben : 14.01.2005 00:24
(@Ayuda)

also auch Alleinerziehende etc...:
---

Arbeitsagentur vernachlässige Menschen mit Behinderungen"
Beitrag Nr. 66401 vom 02.05.2005

Nach einem Bericht in der "Welt am Sonntag" vom 1. Mai werfen die Behindertenbeauftragte sowie die Sozialverbände der Bundesagentur für Arbeit (BA) vor, sich nach und nach aus der Betreuung und Vermittlung von Menschen mit Behinderungen zurückzuziehen. Der Grund sei, Geld zu sparen. Dabei berufen sich die Kritiker auf eine Beratungsunterlage des Verwaltungsrates der BA vom 21. Januar, die die "klare Ausrichtung des arbeitsmarktpolitischen Programms" beschreibt.

Darin heißt es: dass es für so genannte "Betreuungskunden" keine "zeit- oder kostenintensive Hilfen" geben werde. Als "Betreuungskunden" werden bei der Bundesagentur für Arbeit die Arbeitslosen bezeichnet, die durch Behinderungen, familiäre Probleme oder durch Langzeitarbeitslosigkeit auffallen. Im Klartext hieße dies, dass die BA für diese Gruppen keine Ermessensleistungen bereitstelle. Dazu gehören - laut "Welt am Sonntag" - beispielsweise Eingliederungszuschüsse. Das sind Gelder, die die Arbeitgeber für die Einstellung der genannten Personengruppen erhalten. In diesem Jahr hat die BA hierfür 170 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Letztes Jahr waren dies noch 384 Millionen Euro.

Sozialexperten leiten daraus ab, dass die Bundesagentur für Arbeit für die Betreuung und Vermittlung der genannten Personengruppen keine großen Anstrengungen unternehmen will. Dabei sei die BA aber gesetzlich verpflichtet, Behinderte zu fördern. Davon gebe es derzeit 194 000 Arbeitslose in Deutschland.

Eine BA-Sprecherin entschuldigte sich für diesen Eindruck und erklärte, dass die Bundesagentur für Arbeit auch weiterhin ihrem Auftrag nachkomme, Behinderte, Langzeitarbeitslose und Menschen mit Problemen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Hierfür soll es auch weiterhin entsprechende Fördermöglichkeiten geben.

Dieser Beitrag wurde erstellt von Susanne Wächter.

http://www.lexonline.info/lexonline2/live/professional/index_0.php?lid=90&productActiveArtnr=293129&xid=66401

AntwortZitat
Themenstarter Geschrieben : 04.05.2005 23:29