BVerfG: Verpflichtung zur Zahlung von Kindesunterhalt unter Zurechnung fiktiver Einkünfte

BVerfG: Verpflichtung zur Zahlung von Kindesunterhalt unter Zurechnung fiktiver Einkünfte

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 14. Januar 2020 – 8 UF 167/19 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes.

2. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Naumburg zurückverwiesen.

3. Das Land Sachsen-Anhalt hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

4. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.

5. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verpflichtung zur Zahlung von Kindesunterhalt unter Zurechnung fiktiver Einkünfte.

I.

1. Die Beschwerdeführerin ist Mutter einer minderjährigen Tochter und eines minderjährigen Sohnes, die beide von dem von ihr getrennt lebenden Vater betreut werden.

a) Die Beschwerdeführerin hat eine Berufsausbildung als Floristin, übt diesen Beruf jedoch seit langem nicht mehr aus. Seit Juli 2019 geht sie einer Teilzeitbeschäftigung mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden nach; zudem erhält sie Leistungen nach dem SGB II. Sie leidet an einer psychischen Erkrankung. Nach der in einer ärztlichen Bescheinigung geäußerten Einschätzung der sie behandelnden Fachärztin ist ihre Erwerbsfähigkeit deutlich eingeschränkt und besteht höchstens für vier Stunden täglicher Arbeitszeit bei vier Arbeitstagen pro Woche. Die Beschwerdeführerin neige dazu, ihre eigene Belastbarkeit zu überschätzen und gefährde sich dadurch selbst.

b) Aufgrund gerichtlicher Entscheidung wurde die Beschwerdeführerin im April 2017 zur Zahlung von Kindesunterhalt an ihre Tochter in Höhe von 100% des Mindestunterhalts verpflichtet. Einen im Februar 2019 gestellten Antrag, sie zur Zahlung des Mindestunterhalts auch an ihren Sohn zu verurteilen, lehnte das Familiengericht mit der Begründung mangelnder Leistungsfähigkeit ab. Dagegen legte der Beistand des Sohnes Beschwerde ein. Im Beschwerdeverfahren trugen die Beteiligten übereinstimmend vor, dass die Beschwerdeführerin Mutter eines weiteren minderjährigen Kindes (ihrer Tochter) sei.

Mit angegriffenem Beschluss vom 14. Januar 2020 änderte das Oberlandesgericht die familiengerichtliche Entscheidung ab und verpflichtete die Beschwerdeführerin, an ihren Sohn Kindesunterhalt in Höhe von 100% des Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe abzüglich des hälftigen staatlichen Kindergeldes zu zahlen. Die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin sei wegen einer Verletzung ihrer gesteigerten Erwerbsobliegenheit unter Rückgriff auf fiktive Einkünfte zu ermitteln. Sie trage nicht mit hinreichender Substanz Bemühungen um eine Erwerbstätigkeit beziehungsweise die Unfähigkeit zu solchen aufgrund einer Krankheit vor. Bereits gegenwärtig arbeite die Beschwerdeführerin 20 Wochenstunden und überschreite damit die ärztlich geratene Maximalgrenze von 16 Wochenarbeitsstunden. Es sei daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin ihrem Ausbildungsberuf als Floristin bis zu einer Arbeitszeit von 48 Wochenstunden nachgehen könne.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer wirtschaftlichen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die für eine Unterhaltsverpflichtung erforderlichen Einkünfte seien für sie objektiv nicht erzielbar. Das Oberlandesgericht habe sich nicht an den persönlichen Voraussetzungen eines Rückgriffs auf fiktive Einkünfte orientiert. Auch sei die konkret erforderliche Einkommenshöhe nicht bestimmt und der Umstand, dass die Beschwerdeführerin neben dem Sohn als Antragsteller des Ausgangsverfahrens auch dessen Schwester zur Leistung von Kindesunterhalt verpflichtet sei, nicht gewürdigt worden.

3. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen. Die Landesregierung Sachsen-Anhalt und der Antragsteller des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt und die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit. Das Oberlandesgericht hat die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin anhand eines fiktiven Einkommens verfassungsrechtlich nicht tragfähig begründet. Insbesondere hat es nicht nachvollziehbar dargelegt, worauf es seine Annahme stützt, die Beschwerdeführerin könne bei ausreichenden, ihr zumutbaren Bemühungen ein Einkommen in der zur Zahlung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen.

a) Die Auferlegung von Unterhaltsleistungen schränkt den Verpflichteten in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit ein. Diese ist jedoch nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet, zu der auch das Unterhaltsrecht gehört, soweit dieses mit Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang steht (vgl. BVerfGE 57, 361 <378>). Der ausgeurteilte Unterhalt darf allerdings nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung des Unterhaltspflichtigen führen (vgl. BVerfGE 57, 361 <388>). Wird die Grenze des Zumutbaren eines Unterhaltsanspruchs überschritten, ist die Beschränkung der Dispositionsfreiheit des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhaltsansprüche nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen (vgl. BVerfGE 57, 361 <381>).

aa) Ausprägung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht ist § 1603 Abs. 1 BGB, nach dem nicht unterhaltspflichtig ist, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind nach § 1603 Abs. 2 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Aus dieser in Art. 6 Abs. 2 GG wurzelnden fachrechtlichen Vorschrift folgt die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz ihrer Arbeitskraft. Verfassungsrechtlich ist dabei nicht zu beanstanden, dass bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht allein auf das tatsächliche Vermögen und Einkommen des Verpflichteten, sondern auch auf dessen Arbeits- und Erwerbsfähigkeit abgestellt wird und demzufolge dem Unterhaltsschuldner ein fiktives Einkommen zugerechnet wird, wenn er eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese „bei gutem Willen“ ausüben könnte (vgl. BVerfGE 68, 256 <270>).Die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen wird damit nicht ausschließlich durch sein tatsächlich vorhandenes Einkommen bestimmt, sondern auch durch seine Erwerbsfähigkeit und seine Erwerbsmöglichkeiten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Februar 2010 – 1 BvR 2236/09 -, Rn. 17; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juni 2012 – 1 BvR 1530/11 -, Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juni 2012 – 1 BvR 2867/11 -, Rn. 10).

bb) Gleichwohl bleibt Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Das Unterhaltsrecht ermöglicht es insofern den Gerichten, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. März 2008 – 1 BvR 125/06 -, Rn. 14). Auch im Rahmen der gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwerbsobliegenheit darf von Unterhaltspflichtigen nach § 1603 Abs. 2 BGB nichts Unmögliches verlangt werden. Die Gerichte haben im Einzelfall zu prüfen, ob Unterhaltspflichtige in der Lage sind, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen, oder ob dieser ihre finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigt (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juni 2012 – 1 BvR 1530/11 -, Rn. 13; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juni 2012 – 1 BvR 2867/11 -, Rn. 11).

cc) Fachrechtlich setzt ‒ im Einklang mit dem Verfassungsrecht (vgl. BVerfGK 7, 135 <139>; 9, 437 <440>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juni 2012 – 1 BvR 1530/11 -, Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juni 2012 – 1 BvR 2867/11 -, Rn. 13 m.w.N.) ‒ die Zurechnung fiktiver Einkünfte, welche die Leistungsfähigkeit begründen sollen, zweierlei voraus. Zum einen muss feststehen, dass subjektiv Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners fehlen. Zum anderen müssen die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten objektiv erzielbar sein, was von seinen persönlichen Voraussetzungen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwerbsbiographie und Gesundheitszustand und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängt (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2008 – XII ZR 126/06 -, Rn. 22; Urteil vom 3. Dezember 2008 – XII ZR 182/06 -, Rn. 21). Fehlt es daran und wird die Erwirtschaftung eines Einkommens abverlangt, welches objektiv nicht erzielt werden kann, liegt regelmäßig ein unverhältnismäßiger Eingriff in die wirtschaftliche Handlungsfreiheit vor (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. März 2008 – 1 BvR 125/06 -, Rn. 16).

dd) Bei der Anwendung von § 1603 BGB können die Fachgerichte allerdings verfassungsrechtlich bedenkenfrei davon ausgehen, dass die Darlegungs- und Beweislast für die Leistungsunfähigkeit zunächst den Verpflichteten trifft (vgl. BVerfGE 68, 256 <270>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. August 2014 – 1 BvR 192/12 -, juris, Rn. 18). Das gilt grundsätzlich für sämtliche Umstände, die zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen können. Dementsprechend muss derjenige, der sich gegenüber seiner Erwerbsobliegenheit auf eine krankheitsbedingte Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit berufen will, grundsätzlich Art und Umfang der behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Leiden angeben, und er hat ferner darzulegen, inwieweit die behaupteten gesundheitlichen Störungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2013 – XII ZB 297/12 -, juris, Rn. 13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. Mai 2017 – 18 WF 33/16 -, FamRZ 2017, S. 1575 <1576>). Hat der Unterhaltspflichtige allerdings ausreichend substantiiert konkrete Umstände vorgetragen, die eine Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit ergeben können, sind die Gerichte im Rahmen der gebotenen Zumutbarkeitsprüfung gehalten, ein fiktives Einkommen ausgehend von den vorgetragenen Umständen realitätsgerecht festzustellen und zu begründen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. August 2014 – 1 BvR 192/12 -, juris, Rn. 18 m.w.N.)

ee) Stützt sich die Verurteilung des Unterhaltspflichtigen nach den vorgenannten materiellen und prozessualen Maßgaben auf fiktives Einkommen, steigert dies typischerweise die Intensität des Eingriffs in das betroffene Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Während das Unterhaltsrecht in der Regel die Berufsentscheidung derjenigen akzeptiert, die Unterhalt schulden, mitsamt der sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Höhe des zumutbar zu leistenden Unterhalts, geht mit der Heranziehung fiktiver Einkünfte die Gefahr einher, die tatsächliche Leistungsfähigkeit zu überspannen und Unmögliches von ihm zu verlangen. Angesichts dessen und der an der Intensität des Grundrechtseingriffs ausgerichteten verfassungsgerichtlichen Prüfung (vgl. BVerfGE 72, 122 <138>; BVerfGK 19, 295 <300>; stRspr) sind die Fachgerichte insoweit von Verfassungs wegen gehalten, ihre Entscheidungsgrundlagen bei der Verpflichtung zur Leistung von Unterhalt auf fiktiver Basis offenzulegen und somit deren Überprüfung zu ermöglichen. Andernfalls wäre nicht kontrollierbar, ob sie in vertretbarer Weise von einer objektiven Möglichkeit hinreichender Einkommenserzielung ausgegangen sind und ihnen keine Auslegungsfehler unterlaufen sind, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit beruhen (vgl. zum Maßstab BVerfGE 72, 122 <138>). Entsprechende Anforderungen gelten wegen des erhöhten Eingriffsgewichts einer Verpflichtung zur Unterhaltszahlung auf der Grundlage fiktiven Einkommens auch für die fachgerichtliche Beurteilung, ob die unterhaltspflichtige Person ihrer Darlegungs- und gegebenenfalls Beweislast zur Einschränkung oder Aufhebung der Leistungsfähigkeit nachgekommen ist.

b) Diesen Anforderungen genügt die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das die Beschwerdeführerin unter Rückgriff auf fiktive Einkünfte zur Leistung von Unterhalt verpflichtet, ohne die objektive Möglichkeit zur Erzielung eines hierfür erforderlichen Einkommens zu erörtern, nicht.

aa) Zwar hat das Oberlandesgericht noch in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise begründet, dass die Beschwerdeführerin nicht hinreichend dargelegt hat, sich um eine Erwerbstätigkeit in ihrem erlernten Beruf oder in einer anderen Position zu bemühen. Dabei ist es vertretbar davon ausgegangen, dass sie nicht hinreichend dargetan hat, krankheitsbedingt an entsprechenden Bemühungen gehindert zu sein.

bb) Das Oberlandesgericht begründet nicht in einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Weise, dass die Beschwerdeführerin ihrer Darlegungslast insoweit nicht nachgekommen ist, als sie eine krankheitsbedingte Einschränkung ihrer Erwerbsfähigkeit geltend gemacht hat, die das Erzielen eines Einkommens in der zur Begleichung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe objektiv ausschließt (1). Wegen der ungenügenden Begründung zur Nichterfüllung der Darlegungslast hielte die Verurteilung der Beschwerdeführerin zur Unterhaltszahlung verfassungsrechtlicher Prüfung lediglich dann stand, wenn das Oberlandesgericht tragfähig die objektive Möglichkeit der Beschwerdeführerin dargelegt hätte, das für den titulierten Unterhaltsanspruch erforderliche Einkommen erzielen zu können. Daran fehlt es jedoch (2).

(1) Die Beschwerdeführerin hat im fachgerichtlichen Verfahren gestützt auf eine Bescheinigung der sie behandelnden Fachärztin vorgetragen, krankheitsbedingt lediglich vier Stunden an vier Werktagen, also 16 Wochenstunden, erwerbstätig sein zu können. Die Erwägung des Oberlandesgerichts, die darin liegende Behauptung zeitlich begrenzter Erwerbsfähigkeit könne sich nicht auf die fachärztliche Einschätzung stützen, weil die Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben aktuell im Umfang von 20 Wochenstunden arbeite, genügt nicht als Begründung dafür, dass die Beschwerdeführerin nicht ausreichend substantiiert zu Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit vorgetragen habe. Denn sie hatte ebenfalls unter Berufung auf die fachärztliche Einschätzung geltend gemacht, ihre Erkrankung gehe mit einer Neigung zur Überschätzung der eigenen Belastbarkeit einher, und weiter vorgebracht, im Fall der Überforderung drohe eine akute Verschlechterung des vorhandenen Krankheitsbildes. Der Begründung der angegriffenen Entscheidung lässt sich nicht entnehmen, dass sich das Oberlandesgericht mit diesem konkreten, für den Umfang der Erwerbsfähigkeit und damit für die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin bedeutsamen Vortrag auseinandergesetzt hat. Damit fehlt eine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung dafür, unzureichende Darlegungen der Beschwerdeführerin zu ihrer eingeschränkten Leistungsfähigkeit anzunehmen.

(2) Die objektive Möglichkeit für die Beschwerdeführerin, bei Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Umfang von 48 Wochenstunden tatsächlich Einkommen in einer zur Bedienung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen zu können, ist nicht in einer verfassungsrechtlicher Prüfung standhaltenden Weise festgestellt.

(a) Dem angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts lässt sich bereits nicht entnehmen, in welcher Höhe die Beschwerdeführerin Einkommen erzielen müsste, um für den titulierten Unterhalt leistungsfähig zu sein. Eine Kalkulation stellt das Gericht weder zu der für Kindesunterhalt für zwei Kinder erforderlichen Höhe des Einkommens noch zur Höhe des für die Beschwerdeführerin objektiv möglichen Einkommens an. Obwohl die Beteiligten des Ausgangsverfahrens übereinstimmend vorgetragen haben, dass die Beschwerdeführerin Mutter eines zweiten minderjährigen Kindes ist, geht das Oberlandesgericht nicht darauf ein, ob und wie sich die nach § 1609 Nr. 1 BGB gleichrangige Unterhaltsberechtigung beider minderjähriger Kinder auf die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin zur Zahlung vollen Unterhalts angesichts ihres zu wahrenden Selbstbehalts auswirkt. Möglicherweise hat das Oberlandesgericht trotz des insoweit unstreitigen Beteiligtenvorbringens die Existenz des zweiten Kindes der Beschwerdeführerin bei der Beschlussfassung übersehen.

(b) Die angegriffene Entscheidung enthält zudem keine tragfähige Feststellung dazu, worauf das Oberlandesgericht seine Auffassung stützt, dass die Beschwerdeführerin bei Einsatz ihrer vollen Arbeitskraft und bei Aufnahme einer ihrer persönlichen Voraussetzungen entsprechenden Arbeit objektiv in der Lage wäre, ein Einkommen in der erforderlichen Höhe zur Leistung des titulierten Unterhalts zu erzielen. Auf die persönlichen Voraussetzungen, wie beispielsweise Alter, berufliche Qualifikation, Erwerbsbiographie und das Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen, geht es trotz entsprechenden Vortrags nicht ernsthaft ein. Es beschränkt sich auf den Hinweis, die Beschwerdeführerin könne 48 Wochenstunden als Floristin arbeiten, ohne sich mit deren zahlreich vorgebrachten Bedenken hinsichtlich des durchschnittlich und maximal zu erwartenden Lohnes sowie ihrer lückenhaften Erwerbsbiographie auseinanderzusetzen. Die Ausführungen lassen nicht erkennen, ob sich das Oberlandesgericht der Anspruchsvoraussetzung einer objektiven Erzielbarkeit der erforderlichen Einkünfte bewusst war.

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts beruht auf dem Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei der gebotenen umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls von einer Verpflichtung zur Leistung von Kindesunterhalt in der beschlossenen Höhe abgesehen hätte. Nach § 95 Abs. 1 BVerfGG ist daher bezüglich der angegriffenen Entscheidung die Grundrechtsverletzung festzustellen. Sie wird gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

3. Das Land Sachsen-Anhalt hat der Beschwerdeführerin nach § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen zu erstatten. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts (vgl. BVerfGE 62, 392 <397>; 71, 122 <136 f.>; 105, 239 <252>).

4. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

BVerfG, Beschloss vom 09.11.2020
1 BvR 697/20

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