BVerfG: Vaterschaftsfeststellung bei eineiigen Zwilligen

BVerfG: Vaterschaftsfeststellung bei eineiigen Zwilligen

1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 4. März 2009 – 15 UF 51/06 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.

2. Das Urteil wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Celle zurückverwiesen.

3. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

4. Der Antrag des Beklagten des Ausgangsverfahrens auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird zurückgewiesen.
Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer, das im Januar 1999 geborene Kind L.-F., wendet sich, vertreten durch das Jugendamt als Beistand, gegen die Zurückweisung seiner Vaterschaftsfeststellungsklage.

1. In dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Ausgangsverfahren begehrte der Beschwerdeführer die Feststellung der Vaterschaft des Beklagten. Die Kindesmutter hatte während der gesetzlichen Empfängniszeit – zwischen dem 28. März 1998 und dem 24. Juli 1998 – sowohl mit dem Beklagten des Ausgangsverfahrens als auch mit dessen monozygoten Zwillingsbruder geschlechtlichen Verkehr gehabt.

a) Mit – nicht angegriffenem – Urteil vom 2. Februar 2006 stellte das Amtsgericht Hameln nach Anhörung der Parteien, der Kindesmutter und nach Einholung eines Abstammungsgutachtens sowie eines Gutachtens zur Klärung der Empfängniszeit fest, dass der Beklagte der Vater des Beschwerdeführers sei. Aufgrund des eingeholten Abstammungsgutachtens stehe fest, dass der Beklagte als Vater des Kindes in Betracht komme. Gleichzeitig habe ausgeschlossen werden können, dass auch der Zwillingsbruder als Vater in Betracht komme. Aufgrund des Gutachtens zur Klärung der Empfängniszeit habe die Schwangerschaft der Kindesmutter frühestens im Mai 1998, höchstwahrscheinlich im Juni 1998 eintreten können. Nach der Vernehmung der Kindesmutter stehe für das Gericht fest, dass sie nach dem 15. April 1998 – nach dem Tod ihres Vaters – mit dem Bruder des Beklagten keinen Geschlechtsverkehr mehr ausgeübt habe.

b) Im hiergegen eingeleiteten Berufungsverfahren beauftragte das Oberlandesgericht Celle erneut einen Sachverständigen mit der Erstellung eines Abstammungsgutachtens. Der Sachverständige kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass mit der Untersuchung von zwei Putativvätern „wissenschaftlich-technisches Neuland“ beschritten worden sei. Bei einer Untersuchung von 1.000 Markern habe sich eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 40 % ergeben. Bei 2.000 Markern steige die Erfolgswahrscheinlichkeit auf 63 %. Vorliegend seien 1.032 Marker untersucht und bei beiden Putativvätern ein konkordantes Ergebnis erzielt worden. Die Klärung der Vaterschaft sei jedoch „grundsätzlich möglich“.

In einem weiteren Schreiben teilte der Sachverständige dem Gericht mit, dass seiner Ansicht nach die Lösung des Falls durch ein „whole genome sequencing“- Verfahren sehr wahrscheinlich sei. Wegen der noch hohen Kosten, die weder aus öffentlichen Mitteln noch aus Forschungsgeldern bestritten werden könnten, wäre der Weg über einen kommerziellen Anbieter der einzig realistische Weg. Bereits von ihm angesprochene Unternehmen hätten auch ein außerordentliches Interesse bekundet. Das Gericht hätte die Möglichkeit, den Sachverständigen erneut mit der Klärung der Fragestellung zu beauftragen oder die Zustimmung zur Beauftragung einer von dritter Seite finanzierten Forschung zu erteilen. In beiden Fällen würden dem Gericht keinerlei Kosten entstehen.

c) Mit – angegriffenem – Urteil vom 4. März 2009 änderte das Oberlandesgericht Celle nach Anhörung der Parteien, der Kindesmutter und des Zwillingsbruders des Beklagten das Urteil des Amtsgerichts ab und wies die Klage ab. Es lasse sich nicht feststellen, dass der Beklagte biologischer Vater des Beschwerdeführers sei, weshalb eine rechtliche Vaterschaft nicht in Betracht komme. Unter den vorliegenden Umständen sei eine direkte, das heißt genetische Zuordnung des Beschwerdeführers zum Beklagten zur Überzeugung des Senats mit Hilfe der Paternitätsbegutachtung jedenfalls nicht mit der für eine Verurteilung im Statusprozess erforderlichen Wahrscheinlichkeit möglich. Dies ergebe sich aus dem Abstammungsgutachten, das auf aufwendigen und umfangreichen Laboruntersuchungen nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhe. Mit dem Versuch, einen von zwei als Putativväter in Betracht kommenden monozygoten Zwillingen auszuschließen, sei wissenschaftlich-technisches Neuland beschritten worden. Dabei seien mit außerordentlichem Kostenaufwand erst in jüngster Zeit zu diesem Zweck identifizierte Mikrosatelliten-Polymorphismen eingesetzt worden, die zuvor noch nie zur Klärung einer praktischen Fragestellung, wie sie hier Gegenstand sei, herangezogen worden seien. Deshalb habe der Sachverständige vor Beginn der entsprechenden Laboruntersuchung die Erfolgsaussichten nicht konkret einzuschätzen vermocht. Insgesamt seien 1.033 voneinander unabhängige Loci untersucht worden, während nach den Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten nur die Untersuchung von mindestens 12 Loci erforderlich sei. Auf der Basis der so gewonnenen Daten sei der Ausschluss eines der beiden Putativväter nicht möglich. Zwar halte es der Sachverständige für grundsätzlich möglich, die Fragestellung durch eine weitere Aufstockung der zu untersuchenden STR-Marker zu klären. Das Gericht habe sich indessen aufgrund eigener Beurteilung davon zu überzeugen, ob davon auszugehen sei, dass ein solches Vorgehen den nach den Richtlinien erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Nichtausschluss des Beklagten erbringen, das heißt das Prädikat „Vaterschaft praktisch erwiesen“ rechtfertigen könnte. Das erscheine nach den bisherigen, aus der Entscheidung vergleichbarer Fälle gewonnenen Erfahrungen des Senats nach derzeitigem Stand von Wissenschaft und Technik nicht der Fall.

Zur weiteren Überzeugung des Senats greife auch die gesetzliche Vaterschaftsvermutung (§ 1600d Abs. 2 Satz 1 BGB) nicht. Zwar habe der Beklagte in der gesetzlichen Empfängniszeit vom 28. März 1998 bis zum 25. Juli 1998 der Kindesmutter beigewohnt. Aber die dadurch ausgelöste Vermutung werde durch schwerwiegende Zweifel entkräftet. Denn nach dem Ergebnis der durch den Senat durchgeführten Vernehmung der Kindesmutter und des Zwillingsbruders des Beklagten als Zeugen stehe nicht fest, dass die Kindesmutter im vorgenannten Zeitraum – insbesondere nach dem 15. April 1998 – allein mit dem Beklagten, das heißt nicht auch mit seinem Zwillingsbruder Geschlechtsverkehr gehabt habe. So habe die Kindesmutter in ihrer Vernehmung auf die Frage, ob sie – wie im angefochtenen Urteil festgestellt – nach dem 15. April 1998 nur mit dem Beklagten und nicht mit dessen Zwillingsbruder geschlechtlich verkehrt habe, erklärt: „Ich meine ja, bin mir fast sicher.“ Auch dass sie in dieser Zeit noch einen weiteren Mann als Geschlechtspartner gehabt habe, vermochte die Kindesmutter nicht mit Gewissheit auszuschließen. Der Zwillingsbruder habe in seiner Vernehmung angegeben, dass er das zur Kindesmutter aufgenommene sexuelle Verhältnis nicht zeitlich einordnen könne, auch nicht im Zusammenhang mit dem Tod ihres Vaters.

d) Auf eine nochmalige Anfrage des Sachverständigen in Bezug auf das weitere Vorgehen teilte das Oberlandesgericht Celle mit, dass der Senat davon abgesehen habe, den erteilten Gutachtenauftrag zu erweitern, weil dies aus Kostengründen nicht vertretbar erschienen sei.

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 2, Art. 3 und Art. 6 GG.

3. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen. Die Verfassungsbeschwerde wurde der Regierung des Landes Niedersachsen und dem Beklagten des Ausgangsverfahrens zugestellt. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hat die angegriffene Entscheidung verteidigt und für das Verfassungsbeschwerdeverfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sowie die Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 4. März 2009 verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Verständnis und Entfaltung der Individualität sind aber mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden. Zu diesen zählt neben anderen die Abstammung (BVerfGE 79, 256 <268>). Zwar verleiht das Persönlichkeitsrecht kein Recht auf Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Abstammung, es schützt aber vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen (vgl. BVerfGE 79, 256 <269>; 117, 202 <226>). Dieser Schutz ist nur dann gewährleistet, wenn ein Verfahren eröffnet ist, das einem Grundrechtsträger den Zugang zu den ihm vorenthaltenen Informationen ermöglicht, die für die Kenntnis der Abstammung erforderlich sind. Hierzu gehören nach dem heutigen Stand der Wissenschaft insbesondere die genetischen Erbsubstanzen der betroffenen Personen (vgl. BVerfGE 117, 202 <226>). Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind zwar grundsätzlich Sache der Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch die Frage, ob fachgerichtliche Entscheidungen Fehler aufweisen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder dem Umfang seines Schutzbereichs beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>).

b) Nach diesem Maßstab verletzt die angegriffene Entscheidung den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

aa) Das Oberlandesgericht hat das Grundrecht des Beschwerdeführers in seiner Tragweite verkannt, als es ohne weitere Sachverhaltsermittlung davon abgesehen hat, andere Stellen um eine Klärung der Frage der Abstammung des Beschwerdeführers im Wege des „whole genome sequencing“-Verfahrens zu bitten. Im Ausgangsverfahren hatte das Oberlandesgericht aufgrund des Schreibens des Sachverständigen, in dem er die Möglichkeit der kostenfreien Inanspruchnahme kommerzieller Anbieter erörterte, hinreichend konkrete Anhaltspunkte, zumindest zu prüfen, ob eine Klärung der Abstammung des Beschwerdeführers durch kommerzielle Anbieter möglich ist. Die eigentlich bei der Anwendung des „whole genome sequencing“-Verfahrens entstehenden besonders hohen Kosten wären aufgrund des wissenschaftlichen Interesses an der Anwendung des Verfahrens seitens der privaten Anbieter laut dem Schreiben des Sachverständigen womöglich nicht der Staatskasse zur Last gefallen. Das wird auch durch das wohl außerordentliche Interesse der bereits vom Sachverständigen abstrakt angefragten Anbieter bestätigt.

Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass es Fälle geben mag, in denen die Abstammung eines Kindes unaufklärbar bleibt, auch weil sie nur unter einem deutlich unangemessenen finanziellen Aufwand mit nur geringer Aussicht auf weiteren Erkenntnisgewinn ermittelbar wäre. In einem solchen Fall könnte davon ausgegangen werden, dass es keine erlangbaren Informationen gibt, die den Grundrechtsträgern vorenthalten werden.

Dafür, dass im vorliegenden Verfahren ein solcher Fall gegeben ist, gibt es jedoch nach dem bisherigen Sachstand ohne eine weitere Prüfung seitens des Oberlandesgerichts keine Anhaltspunkte.

bb) Das Oberlandesgericht hat zudem das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers auch dadurch verkannt, dass es die mit dem Vorschlag des Sachverständigen einhergehende Aufstockung der zu untersuchenden STR-Marker unter Hinweis darauf ablehnte, dass ein solches Vorgehen nach den Erfahrungen des Gerichts nach derzeitigem Stand von Wissenschaft und Technik nicht den erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad für das Prädikat „Vaterschaft praktisch erwiesen“ erbringe. Damit hat das Oberlandesgericht aufgrund unzureichender Sachverhaltsaufklärung die verfahrensrechtliche Dimension des Grundrechts des Beschwerdeführers nicht hinreichend berücksichtigt. Es ist nämlich nicht nachvollziehbar, woher das Oberlandesgericht seine Sachkunde in dieser Hinsicht bezieht. Das vom Sachverständigen vorgeschlagene Verfahren zeichnet sich gerade durch seine Neuartigkeit aus, sodass schon nicht klar wird, welche Erfahrungen gegen die Durchführung des Verfahrens sprechen können. Soweit sich das Oberlandesgericht in diesem Zusammenhang auf die Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten (FamRZ 2002, S. 1159) beruft, ist festzustellen, dass diese Richtlinien keine unmittelbare Bindungswirkung für die Entscheidung jedes Einzelfalls entfalten können. Das folgt aus der Bindung des Richters an Recht und Gesetz, Art. 20 Abs. 3 GG.

2. Da das Urteil des Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer bereits in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt, kann dahinstehen, ob der Beschwerdeführer durch diese Entscheidung darüber hinaus in den weiteren von ihm gerügten Grundrechten aus Art. 3 und Art. 6 GG verletzt wird.

3. Die Feststellung der Grundrechtsverletzung ergibt sich aus § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG ist die Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

5. Die Voraussetzungen für die Bewilligung der von dem nach § 94 Abs. 3 BVerfGG anhörungsberechtigten Beklagten des Ausgangsverfahrens beantragten Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts liegen nicht vor, da die mit dem Gesuch vorgelegte anwaltliche Stellungnahme des Beklagten des Ausgangsverfahrens keinen relevanten Beitrag zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Verfassungsbeschwerde geleistet hat (vgl. BVerfGE 92, 122 <125>).

BVerfG, Beschluss vom 18.08.2010
1 BvR 811/09

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