BVerfG: Sorgerechtsentscheidung unter Abweichung von Sachverständigengutachten ohne hinreichende Begründung

BVerfG: Sorgerechtsentscheidung unter Abweichung von Sachverständigengutachten ohne hinreichende Begründung

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 2. Juli 2020 – 10 UF 68/20 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.

2. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

3. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Übertragung des alleinigen elterlichen Sorgerechts auf den Vater des Kindes.

1. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines im Oktober 2008 geborenen Kindes, für das die Eltern, die zwischen 2007 und 2013 zusammengelebt hatten, zunächst gemeinsam sorgeberechtigt waren. Nach der Trennung der Eltern strengten sie jeweils mehrere gerichtliche Verfahren an, unter anderem das bei dem Familiengericht unter dem Aktenzeichen 20 F 202/14 geführte Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht.

Im September 2014 beantragte die Beschwerdeführerin in dem genannten Verfahren, ihr das alleinige Sorgerecht für das Kind zu übertragen. Später stellte der Vater den Antrag, ihm das Sorgerecht allein zu übertragen. Das Familiengericht bestellte einen Verfahrensbeistand und hörte das Kind im März 2016 an. In der Anhörung äußerte das Kind, es wohne gerne bei seiner Mutter und halte sich auch gerne bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf. Bei seinem Vater sei es nicht so gern, dieser schimpfe öfter mit ihm. Die Eltern vereinbarten im Rahmen einer Anhörung durch das Familiengericht von dem freien Träger Alternatives Jugendwohnen e.V. vermittelte Beratungsgespräche. Als Ansprechpartnerin des Vaters war dort die Mitarbeiterin Z. eingesetzt, die im späteren Verlauf zudem als eine Art Vertrauensperson des Kindes fungierte und fungiert. Gemeinsam mit dem Vater versuchte die Mitarbeiterin Z. zudem, auf eine Ablösung des gerichtlich bestellten Verfahrensbeistandes hinzuwirken und diesem Vorgaben für den Kontakt mit dem Kind zu machen.

Nachdem die Beratungsgespräche zwischen den Eltern ergebnislos verlaufen waren, setzte das Familiengericht das Verfahren fort, ohne dass zunächst gerichtliche Entscheidungen ergingen.

Am 28. Juni 2018 kam es zwischen dem Kind und der Beschwerdeführerin zu einem Bruch, nach dem es den mütterlichen Haushalt verließ. Das Kind rief die Mitarbeiterin Z. an und bat um Hilfe. Diese informierte ihrerseits den Vater, der das Kind von der Schule abholte. Seitdem lebt es ohne Kontakt zur Beschwerdeführerin im Haushalt des Vaters zusammen mit dessen Ehefrau und seiner damals etwa zwei Jahre alten Halbschwester.

Im Juli 2018 beschloss das Familiengericht die Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens und beauftragte hiermit die Diplom-Psychologin W. als Sachverständige.

Der Vater wandte sich gegen die Begutachtung durch diese Sachverständige mit der Begründung, das Kind wolle nicht weiter mit ihr sprechen, weil sie es zu sehr an seine Mutter und seine Großmutter mütterlicherseits erinnere. Ein Ablehnungsgesuch des Vaters gegen die Sachverständige blieb ohne Erfolg. Das wegen der Verweigerung weiterer Mitwirkung vorzeitig abgeschlossene Gutachten gelangte zu dem Ergebnis, dass die Mutter besser in der Lage sei, das Kind zu betreuen und zu erziehen, weil die Eskalation des Elternkonflikts seit Jahren aus psychologischer Sicht einseitig vom Kindesvater betrieben und das Wohl des Kindes vernachlässigt werde. Die Sachverständige ging von einer Unbeachtlichkeit des kindlichen Willens aus, weil es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen durch den Vater und professionelle Berater induzierten Willen handle. Nach der Erstattung des Gutachtens wandte sich die Sachverständige im Februar 2019 an das Familiengericht und wies darauf hin, dass für das Kind ihres Erachtens eine akute psychische Kindeswohlgefährdung vorliege und es nicht im Haushalt des Vaters bleiben, sondern zeitlich begrenzt extern untergebracht werden sollte.

In einem weiteren das Kind betreffenden Verfahren vor dem Familiengericht hatte der Verfahrensbeistand zur Vorbereitung einer gerichtlichen Anhörung im Januar 2019 mit dem Vater einen Termin für ein Gespräch mit dem Kind vereinbart. Zu diesem erschien es in Begleitung des Vaters und der Mitarbeiterin Z. Es bestand darauf, das Gespräch mit dem Verfahrensbeistand, zu dem es nach dessen Einschätzung zuvor ein gutes Verhältnis gehabt hatte, lediglich in Anwesenheit von Frau Z. führen zu wollen. Nach einer Diskussion, in deren Verlauf nach der Wahrnehmung des Verfahrensbeistandes der Vater und Frau Z. ihm Vorgaben machen wollten, wie er seine Tätigkeit als Beistand auszuüben habe, kam es nicht mehr zu einem Gespräch mit dem Kind. Der Verfahrensbeistand berichtete gegenüber dem Familiengericht schriftlich über die Begebenheit.

Das Familiengericht beauftragte im April 2019 den Diplom-Psychologen A. mit dem Erstellen eines weiteren Gutachtens. Darin kam der Sachverständige A. zu dem Ergebnis, der Vater leide unter einer wahnhaften Störung und beziehe sein Kind in das Wahngeflecht ein. Bei einem Verbleib des Kindes im Haushalt des Vaters sei das Wohl des Kindes massiv gefährdet. Der Sachverständige empfahl, das Kind nicht sofort in den mütterlichen Haushalt zu überführen, sondern es zunächst in einer wohnortnahen Kinder- und Jugendpsychiatrie aufnehmen zu lassen, um therapeutische Maßnahmen einleiten zu können.

Nachdem das Familiengericht im Februar 2020 (nochmals) mündlich verhandelt und die Beteiligten, mit Ausnahme des Kindes, sowie den Sachverständigen A. mündlich angehört hatte, übertrug es mit Beschluss vom 23. April 2020 der Beschwerdeführerin das alleinige Sorgerecht. Ferner gab es ihr auf, das Kind zunächst in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nähe ihres Wohnortes behandeln zu lassen. Von einer Anhörung des Kindes hatte das Familiengericht auf Anraten des Sachverständigen A. abgesehen.

2. Gegen diese Entscheidung des Familiengerichts wandten sich das Jugendamt und der Vater im Wege der Beschwerde.

Das Oberlandesgericht hörte das Kind im Beisein des Verfahrensbeistandes mündlich an. Dieses schilderte im Rahmen der Anhörung insbesondere den Vorfall vom 28. Juni 2018 hinsichtlich des Verlassens des mütterlichen Haushalts und äußerte den Wunsch, bei seinem Vater zu bleiben. Zudem hörte das Gericht die Eltern, das Jugendamt sowie den Verfahrensbeistand an. Dieser hielt an seiner Auffassung fest, die gemeinsame elterliche Sorge für das Kind aufzuheben und diese allein der Beschwerdeführerin zu übertragen.

Mit angegriffenem Beschluss vom 2. Juli 2020 änderte das Oberlandesgericht die Entscheidung des Familiengerichts ab und übertrug dem Kindesvater nach § 1671 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 BGB das alleinige Sorgerecht. Unter Beachtung der Ausführungen des Jugendamtes sei dem Wohl des Kindes nach den maßgeblichen Kriterien seiner Bindung an den Vater, der Förderkompetenz, der Kontinuität und unter Berücksichtigung des Kindeswillens am besten bei einer Übertragung des Sorgerechts auf den Vater allein gedient. In Bezug auf den Kindeswillen habe der Senat aufgrund des Eindrucks in der persönlichen Anhörung keinen Grund zu der Annahme, dass es sich bei der sehr nachvollziehbaren und eindrucksvollen Schilderung der „Verzweiflungstat des Kindes“ vom 28. Juni 2018 um eine ihm vom Vater „eingetrichterte“ Version gehandelt habe. Aufgrund der Angaben des Kindes stehe für den Senat fest, dass derzeit keine Bindung des Kindes an die Beschwerdeführerin bestehe.

Die Grundlage der von der Sachverständigen W. angenommenen besseren Erziehungseignung der Mutter sei daher entfallen.

Die Schlussfolgerung des Sachverständigen A., die Ursache für die eklatartige Trennung des Kindes von seiner Mutter am 28. Juni 2018 seien Einwirkungen des von einer schweren psychischen Erkrankung belasteten Vaters gewesen, der seine wahnhaften, vor allem die Mutter betreffenden Vorstellungen auf das Kind übertragen habe, sei für das Gericht weder schlüssig noch durch die Kindesanhörung bestätigt.

Der Sachverständige habe versäumt, den Weg der Einflussnahme auf das Kind „für den Zeitpunkt 28.06.2020“ (richtig wohl: 28.06.2018) näher zu erläutern. Dies sei schon deshalb erforderlich gewesen, weil das Kind zu diesem Zeitpunkt noch bei der Mutter gelebt habe. Daher sei es nicht plausibel, dass die räumliche Nähe zum Vater die Ursache für das Wirken der negativen Einflussnahme gewesen sein könne. Für die weitere Annahme des Sachverständigen A., die bei dem Vater vermeintlich festgestellte schwere psychische Erkrankung habe – vom Kind unbemerkt – kindeswohlgefährdende Auswirkungen, fehle es an nachvollziehbaren beziehungsweise plausiblen Anknüpfungstatsachen. Der Umstand, dass der Vater im April 2013 einen Psychiater aufgesucht habe, stelle keine solche Tatsache dar. Denn der Psychiater habe nachträglich schriftlich erklärt, er habe keine gesicherte Diagnose für eine psychische Erkrankung des Vaters stellen können. Unabhängig davon habe der Sachverständige A. auch nicht schlüssig und nachvollziehbar darzulegen vermocht, auf welche Weise es zu einer Übertragung der angenommenen Störung auf das Kind kommen solle und welche konkreten kindeswohlgefährdenden Auswirkungen dies mit sich bringe.

3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG im eigenen Namen und macht für ihr Kind eine Verletzung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit geltend, das sie in Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 GG verortet.

II.

Das Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.

III.

Soweit mit der Verfassungsbeschwerde die Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geltend gemacht wird, nimmt die Kammer die insoweit zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts angezeigt ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Die Entscheidung kann von der Kammer getroffen werden. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden und die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 2. Juli 2020 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.

a) Das den Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gegenüber dem Staat gewährleistete Freiheitsrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder dient in erster Linie dem Kindeswohl, das zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist (vgl. BVerfGE 61, 358 <371 f.>; 75, 201 <218 f.>).

aa) Der Schutz des Elternrechts, das Vater und Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>). Für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der Sorge fehlen, bedarf das Elternrecht der gesetzlichen Ausgestaltung (vgl. BVerfGE 92, 158 <178 f.>; 107, 150 <169, 173>). Dem dient § 1671 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 BGB, der bestimmt, dass einem Elternteil auf Antrag die elterliche Sorge oder ein Teil der elterlichen Sorge – beispielsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht – allein zu übertragen ist, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht (vgl. BVerfGK 2, 185 <188>). Die Aufhebung der gemeinsamen Sorge muss am Wohl des Kindes ausgerichtet sein (vgl. BVerfGE 55, 171 <179>). Die Übertragung der alleinigen Sorge auf einen Elternteil setzt zwar keine Kindeswohlgefährdung voraus, wie sie bei einer Trennung des Kindes von seinen Eltern nach Art. 6 Abs. 3 GG bestehen muss (vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn. 28>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 -, Rn. 27 m.w.N.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 -, juris, Rn. 12). Das Wohl des Kindes ist aber auch bei Aufhebung der gemeinsamen Sorge und Übertragung des Sorgerechts auf nur einen Elternteil oberste Richtschnur. Das Kind ist als ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. Jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen den Eltern, die sich auch auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss daher das Kind in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen (vgl. BVerfGE 55, 171 <179>, stRspr).

bb) Sorgerechtsentscheidungen müssen danach den Willen des Kindes einbeziehen.

Die Grundrechte des Kindes gebieten, bei der gerichtlichen Sorgerechtsregelung den Willen des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 -, Rn. 28 m.w.N.). Voraussetzung hierfür ist, dass das Kind in dem gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhält, seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen. Die Gerichte müssen ihr Verfahren deshalb so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Mit der Kundgabe seines Willens macht das Kind von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch. Ein vom Kind kundgetaner Wille kann Ausdruck von Bindungen zu einem Elternteil sein, die es geboten erscheinen lassen können, ihn in dieser Hinsicht zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 55, 171 <180, 182 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 5. September 2007 – 1 BvR 1426/07 -, juris, Rn. 21). Hat ein Kind zu einem Elternteil eine stärkere innere Beziehung entwickelt, so muss das bei der Sorgerechtsentscheidung berücksichtigt werden. Hat der unter diesem Aspekt gesehene Kindeswille bei einem Kleinkind noch eher geringes Gewicht, so kommt ihm im zunehmenden Alter des Kindes vermehrt Bedeutung zu (vgl. BVerfGK 9, 274 <281>; 10, 519 <524>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 -, Rn. 13 m.w.N.). Nur wenn die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes, selbständig und verantwortungsvoll zu handeln, berücksichtigt werden, kann das Ziel erreicht werden, das Kind darin zu unterstützen, zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 -, Rn. 28 m.w.N.).

cc) Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Elternrechts und aus der Verpflichtung des Staates, über dessen Ausübung im Interesse des Kindeswohls zu wachen, einerseits und aus dem Gebot, möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung zu erkennen andererseits, ergeben sich Folgerungen für das Prozessrecht und seine Handhabung in Sorgerechtsverfahren (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Zwar muss in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz dem erkennenden Gericht überlassen bleiben, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um zu den für seine Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. BVerfGE 79, 51 <62>; siehe auch bereits BVerfGE 55, 171 <182>). Das Verfahren muss aber grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Danach ist die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und die Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen im einzelnen Fall Angelegenheit der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen.

Ihm obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang seines Schutzbereiches beruhen.

Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben lassen sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts aber nicht starr und gleichbleibend ziehen. Sie hängen namentlich von der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ab (BVerfGE 72, 122 <138>; stRspr).

Die Fachgerichte sind demnach verfassungsrechtlich nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Wenn sie von der Beiziehung eines Sachverständigen absehen, müssen sie anderweitig über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (vgl. BVerfGK 9, 274 <279>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2006 – 1 BvR 526/04 -, Rn. 18). Die Verfassung schließt zudem nicht aus, dass das Fachgericht im Einzelfall von den fachkundigen Feststellungen und Wertungen gerichtlich bestellter Sachverständiger abweicht. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer abweichenden Einschätzung und Bewertung von Art und Ausmaß einer Kindeswohlgefährdung oder der dem Kindeswohl am besten entsprechenden Entscheidung gelangt. Es muss dann aber eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung haben und diese offenlegen. Ein Abweichen von den gegenläufigen Einschätzungen der Sachverständigen bedarf daher eingehender Begründung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. Juni 1999 – 1 BvR 1689/96 -, juris, Rn. 16; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. August 2014 – 1 BvR 1822/14 -, Rn. 34; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 -, Rn. 49; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Februar 2021 – 1 BvR 1780/20 -, Rn. 29).

b) Die vom Oberlandesgericht getroffene Sorgerechtsentscheidung genügt bei Anlegen dieser Maßstäbe den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch unter Berücksichtigung des zurückgenommenen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs nicht. Es ist ohne eine dem Verfassungsrecht genügende Begründung von den Einschätzungen beider Sachverständiger über die dem Kindeswohl am besten dienende Entscheidung zum Sorgerecht abgewichen (aa) und hat dem geäußerten Kindeswillen maßgebliche Bedeutung bei der Sorgerechtsentscheidung zugemessen, ohne ausreichend tragfähig zu begründen, dass dieser Wille mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist (bb).

aa) Das Oberlandesgericht hat seine Entscheidung über das Sorgerecht abweichend von den Einschätzungen beider Sachverständiger über die dem Kindeswohl am besten dienende Entscheidung begründet, ohne den hierbei aus dem Verfassungsrecht folgenden Anforderungen zu genügen.

(1) Der Sachverständige A. stützt seine Einschätzung zu der fehlenden Erziehungseignung des Vaters und die Gefährdung des Kindeswohls bei Verbleib des Kindes im väterlichen Haushalt zum einen darauf, dass der Vater das Kind in seine als wahnhaft bewerteten Vorstellungen über die Mutter und deren Familie, die sich bösartig gegenüber dem Kind verhielten, einbeziehe. Zum anderen stellt der Sachverständige darauf ab, dass der Vater das Kind in einer mit dem Kindeswohl nicht vereinbaren Weise in den Elternkonflikt verstricke, was das Kind massiv überfordere und dessen Loyalitätskonflikt erhöhe.

Das Gutachten des Sachverständigen legt auf der Grundlage von Angaben des Vaters sowohl dem Sachverständigen als auch dritten Personen gegenüber die von ihm als wahnhaft eingestuften Vorstellungen des Vaters detailliert dar. Zu diesen Inhalten gehören in den Einzelheiten variierende Darstellungen über eine Tätigkeit der Mutter als Prostituierte, jede Nacht stattfindenden Geschlechtsverkehr der Mutter mit anderen Männern, den diese aber wegen „Teildemenz“ am nächsten Tag bereits nicht mehr erinnere. Der Vater habe – offenbar während der Zeit des Zusammenlebens –wegen des permanenten nächtlichen Geschlechtsverkehrs der Mutter mit fremden Männern nachts die Türklinken und Fenstergriffe abschrauben müssen, um die Mutter am Verlassen des Hauses zu hindern. Die Vorstellung einer Tätigkeit der Mutter als Prostituierte wird ergänzt um Aussagen des Vaters, er habe die Mutter für 20.000 Euro – wohl von einem Zuhälter – freikaufen können, habe aber nicht über die dafür erforderlichen finanziellen Mittel verfügt. Ein weiterer Gegenstand des vom Vater geäußerten Vorstellungsbildes über die Mutter ist der einer vollständigen und zeitlich vollumfänglichen Überwachung derselben durch den Bundesnachrichtendienst. Der Vater hat angegeben, einen bei dem Bundesnachrichtendienst tätigen Freund zu haben, der über Beweise in Gestalt von Ton- und Videoaufzeichnungen für das vom Vater behauptete Verhalten der Mutter verfüge. Diese Beweise dürfe der Bedienstete des Bundesnachrichtendienstes wegen der dienstlichen Verpflichtungen allerdings nicht zeigen. Dennoch sei dieser gegen Zahlung von 20.000 Euro bereit, dem Vater das fragliche Material zur Verfügung zu stellen.

Neben diesen Vorstellungen des Vaters über nicht das Kind unmittelbar betreffende Verhaltensweisen der Mutter bestehen nach den Ausführungen des Sachverständigen A. auch solche, die Verhalten der Mutter und ihrer Familie (insbesondere ihrer Eltern) dem Kind gegenüber betreffen. Durch ständige Wiederholung habe sich der Vater eine Art Narrativ geschaffen. Dieses umfasse außer der Annahme, der Mutter sei in ihrer Herkunftsfamilie Gewalt, vielleicht verbunden mit sexuellem Missbrauch durch ihren eigenen Vater, angetan worden, vor allem die Behauptungen, das Kind sei durch die Mutter und deren Eltern erheblich psychisch unter Druck gesetzt worden, es sei durch die Großeltern mütterlicherseits wiederholt eingesperrt worden, um den Kontakt zum Vater zu verhindern. Zudem sei das Kind von der Kindesmutter mit Liebesentzug bestraft und ausgegrenzt worden. Es habe auch körperliche Misshandlungen des Kindes durch die Mutter gegeben. Das Gutachten zeigt in letztgenanntem Zusammenhang auf, dass nach den Angaben des Vaters solche Misshandlungen mit sichtbaren Folgen (Hämatome) bereits 2016 erfolgt sein sollen, zeitnah aber weder abgeklärt noch zur Anzeige gebracht wurden. Eine Anzeigeerstattung erfolgte erst 2019.

Auf dem vorstehend Dargestellten aufbauend zeigt der Sachverständige A. auf, dass nach seiner Beurteilung der Vater fortschreitend das Kind in die eigenen, vom Sachverständigen als wahnhaft bewerteten Vorstellungen einbezogen habe. Dies betreffe vor allem „gefährliche“ und „bösartige“ Verhaltensweisen der Mutter und ihrer Familie gegenüber dem Kind. So vermittle der Vater dem Kind den Eindruck, es müsse sich vor der Mutter und deren Umfeld hüten und sich von diesen fernhalten, indem er in Anwesenheit des Kindes behaupte, es bestehe die Gefahr, die Mutter würde dem Kind auflauern, es entführen und dieses wieder verstecken. Darüber hinaus bewirke der Vater eine Reduktion oder den Abbruch von Kontakten des Kindes zu ihm bisher vertrauten Personen, indem er diesem suggeriere, die Betroffenen seien ihm gegenüber feindselig eingestellt oder würden nicht dessen Interessen vertreten.

Ein Beispiel dafür sei das Verhältnis zum Verfahrensbeistand. Zugleich fördere der Vater die Beziehung des Kindes zu solchen Personen, die ausschließlich die Positionen des Vaters teilten und allein oder ganz überwiegend von diesem mit Informationen und Deutungen im Zusammenhang mit dem Kind versorgt würden. Im Ergebnis führe dieses Verhalten dazu, dass das Kind kaum noch über unabhängig vom Vater bestehende Kontakte verfüge. Der Vater verhindere zudem die Untersuchung des Kindes durch solche Fachkräfte, denen vom Vater unabhängige Informationen
zu den Hintergründen des Eltern- beziehungsweise Familienkonflikts zur Verfügung stehen. Dies habe sich etwa im Zuge der Erstellung des ersten Gutachtens gezeigt.

Der Sachverständige A. ist angesichts dessen zu dem Ergebnis gelangt, dass die Erziehungsfähigkeit des Vaters wegen seiner erheblichen psychopathologischen Symptomatik massiv eingeschränkt ist. Gestützt auf mehrere Quellen aus der psychologischen Literatur führt er aus, dass Kinder, die bei einem Elternteil mit psychischer Erkrankung lebten, ein erhöhtes Risiko aufwiesen, sich nicht gesund zu entwickeln und selbst psychische Probleme zu entwickeln. Hier vermittle der Vater dem Kind ein erheblich negatives Bild von seiner Mutter und beschädige dadurch dessen Beziehung zu seiner vormals wichtigsten Bezugsperson.

(2) Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts enthält, ausgehend von dem Erfordernis einer möglichst zuverlässigen tatsächlichen Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung, keine eingehende und tragfähige Begründung dafür, abweichend von den Einschätzungen beider Sachverständiger die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater allein als dem Kindeswohl am besten dienlich anzunehmen. Das Oberlandesgericht hat vor allem versäumt, sich mit für das Gutachten des Sachverständigen A. maßgeblichen kindeswohlbezogenen Aspekten eingehend auseinanderzusetzen.

(a) Soweit das Oberlandesgericht bereits nachvollziehbare beziehungsweise plausible Anknüpfungstatsachen für kindeswohlgefährdenden Auswirkungen einer von dem Sachverständigen A. „beim Kindesvater vermeintlich festgestellten schweren psychischen Störung“ vermisst, fehlt es an der hier gebotenen umfassenden Berücksichtigung der im Verlauf des fachgerichtlichen Verfahrens bekanntgewordenen Verhältnisse.

Die Erwägung des Oberlandesgerichts, der vom Vater im Jahr 2013 aufgesuchte Psychiater habe nachträglich erklärt, eine gesicherte psychiatrische Diagnose für eine psychische Erkrankung habe nicht gestellt werden können, vermag die Annahme des Sachverständigen A., Vorstellungen und Aussagen des Vaters über die Mutter des Kindes seien als wahnhaft einzuordnen, ohne weitere Begründung nicht in Frage zu stellen. So entbehren die von beiden Sachverständigen berichteten Angaben des Vaters, die Mutter werde umfänglich vom Bundesnachrichtendienst durch Ton- und Bildaufzeichnung überwacht und er könne die entsprechenden Aufzeichnungen von einem mit ihm befreundeten Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes gegen Zahlung von 20.000 Euro erlangen, erkennbar jeglicher nachvollziehbaren Grundlage. Der Vater behauptet damit ein angesichts der gesetzlichen Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes Erkenntnisse über das Ausland zu gewinnen (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1 BNDG) grob rechtswidriges Tätigkeitwerden des Dienstes im Inland sowie ein ebenso grob rechts- und strafrechtswidriges Verhalten eines Mitarbeiters des Nachrichtendienstes mit der vermeintlichen Bereitschaft, gegen Annahme eines finanziellen Vorteils angebliche Erkenntnisse des Dienstes an eine Privatperson weiterzugeben. Anhaltspunkte für irgendeinen Realitätsgehalt dieser Behauptungen des Vaters zeigt das Oberlandesgericht nicht auf. Auch den Angaben des Vaters über vermeintlich ausschweifende sexuelle Aktivitäten der Mutter während des früheren Zusammenlebens fehlt es ebenso an erkennbarem Realitätsgehalt wie seinen Behauptungen über die Verhinderungsstrategien in Gestalt des Abschraubens von Fenster- und Türgriffen. Unabhängig davon, ob diese wie weitere ersichtlich nicht mit der Wirklichkeit vereinbare Behauptungen des Vaters, die in beiden Gutachten behandelt werden, nach der psychiatrischen Wissenschaft die Diagnose einer anhaltenden wahnhaften Störung (im Sinne von ICD-10: F.22.0) tragen würden, begründet das Oberlandesgericht nicht in nachvollziehbarer Weise, warum es dem Sachverständigen an nachvollziehbaren und plausiblen Anknüpfungstatsachen für die Annahme einer wahnhaften Störung gefehlt haben soll.

(b) Die Begründung des Oberlandesgerichts enthält auch keine eingehende Begründung dafür, dem Sachverständigen A. in seinen Einschätzungen nicht zu folgen, dass das abrupte Verlassen des mütterlichen Haushaltes am 28. Juni 2018 unter der Einflussnahme des Vaters erfolgt sei und es sich bei den Schilderungen des Kindes über die entsprechenden Abläufe um eine vom Vater vorgegebene Version handele.

Zwar stützt sich das Oberlandesgericht im Ausgangspunkt beanstandungsfrei auf die nach seiner Wertung nachvollziehbare und eindrucksvolle Schilderung des Kindes in seiner Anhörung, die keine Anhaltspunkte für eine vom Vater „eingetrichterte“ Version biete. Soweit es sich dafür auf seinen durch langjährige praktische Erfahrung mit Kindesanhörungen gewonnenen Sachverstand beruft, ist dies insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich. Allerdings war es angesichts der weiteren im Ausgangsverfahren gewonnenen Erkenntnisse und insbesondere der Ausführungen des Sachverständigen A. geboten, sich näher mit der Möglichkeit einer manipulativen Einwirkung des Vaters auf das Kind zu befassen. Das gilt sowohl für die Herbeiführung der zum Verlassen des mütterlichen Haushaltes führenden Umstände am 28. Juni 2018 als auch für die Wiedergabe dieser Umstände durch das Kind in seiner Anhörung durch das Oberlandesgericht.

Dessen Erwägung, der Sachverständige A. hätte, bezogen auf den 28. Juni 2018, den Weg der Beeinflussung des Kindes durch den Vater schon deshalb näher erläutern müssen, weil dieses zum fraglichen Zeitpunkt noch bei der Mutter gelebt habe und es deshalb nicht plausibel erscheine, dass „die räumliche Nähe zum Vater die Ursache für das Wirken der negativen Einflussnahme gewesen sein“ könne, greift ersichtlich zu kurz. Das Oberlandesgericht hat bereits nicht in den Gründen seiner Entscheidung erkennbar in den Blick genommen, dass der Vater nach der Trennung der Eltern regelmäßig umfänglichen Umgang mit dem Kind hatte, Gelegenheit zu einer Einflussnahme daher durchaus bestand. Wegen der Abweichung von den Einschätzungen des Sachverständigen hätte es zudem einer eingehenderen Begründung unter Berücksichtigung weiterer Umstände mit möglicher Bedeutung für eine Beeinflussung des Kindes durch den Vater zeitlich vor dem Verlassen des mütterlichen Haushaltes und bei dem Verlassen selbst bedurft. So hatte das Kind noch in seiner ersten Anhörung durch das Familiengericht eine deutliche Präferenz für die Mutter erkennen lassen. Nach den Angaben seiner früheren Klassenlehrerin des Kindes sei dieses in der Schule zunächst nicht auffällig gewesen. Es sei stets hilfsbereit und fröhlich gewesen und habe gute schulische Leistungen erbracht. Auffälligkeiten hätten sich erst im Zusammenhang mit dem von den Eltern nach ihrer Trennung praktizierten Wechsel zwischen beiden Haushalten gezeigt. Gerade in der ersten Zeit habe sich das Kind teilweise nur schwer von der Mutter lösen können, habe gelegentlich von ihr bis zum Klassenzimmer gebracht werden müssen und sei ihr manchmal weinend nachgelaufen. Der Begründung des Oberlandesgerichts verhält sich nicht zu Gründen, die anstelle einer vom Sachverständigen A. angenommenen Einflussnahme durch den Vater zu einer gravierenden Einstellungsänderung des Kindes gegenüber seiner Mutter geführt haben könnten.

Auch für den 28. Juni 2018 selbst lagen Anhaltspunkte vor, die für eine nicht unerhebliche Einwirkung des Vaters sprechen könnten. So beschrieb etwa eine Lehrerin der bis dahin vom Kind besuchten Schule, dass sie während einer Unterrichtspause am genannten Tag beobachtet habe, wie das Kind zunächst mit Freunden auf dem Schulhof Fußball gespielt habe. Dann sei dessen Vater erschienen, habe das Kind zu sich gerufen, anschließend sehr lange intensiv auf dieses eingeredet und es dabei mit Worten geradezu bedrängt. Die Lehrerin habe den Eindruck gehabt, der Vater versuche, das Kind zu irgendetwas zu überreden, bevor dann beide das Schulgelände verlassen hätten. Es ist zwar Aufgabe der Fachgerichtsbarkeit zu beurteilen, ob und gegebenenfalls welche Bedeutung solchen Umständen für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung über das Sorgerecht nach § 1671 Abs. 1 BGB zukommt

Das Verfassungsrecht enthält insoweit keine unmittelbaren Vorgaben. Weicht das Fachgericht aber in einer für die Beurteilung der Kindeswohldienlichkeit bedeutsamen Frage von der Einschätzung eines Sachverständigen ab, muss seine dafür angeführte Begründung sich als tragfähig erweisen. Das setzt wegen des Gebots einer möglichst zuverlässigen Grundlage für die Beurteilung des Kindeswohls eine Auseinandersetzung mit im Verfahren bekanntgewordenen Umständen voraus, die die Einschätzung des Sachverständigen stützen könnten. Ob das Fachgericht sie für durchgreifend erachtet, unterliegt wiederum seiner Bewertung. Vorliegend fehlt es jedoch an einer eingehenden Auseinandersetzung mit solchen Umständen.

(c) Das Oberlandesgericht begründet auch nicht eingehend seine Wertung, der Sachverständige A. habe nicht schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, auf welche Weise es zu der Übertragung der dem Vater zugeschriebenen Störung auf das Kind komme und welche konkreten negativen Auswirkungen sich daraus für das Kindeswohl ergeben sollen. Damit trägt es dem Gutachten nicht hinreichend Rechnung. Wie dargelegt (Rn. 26) hat der Sachverständige seine Einschätzung ausführlich beschrieben, dass der Vater – seinen eigenen Vorstellungen entsprechend – dem Kind vermittle, die Mutter sei ein böser Mensch, von dem und dessen Familie man sich fernhalten müsse, weil von ihnen Gefahr drohe. Zugleich bewirke der Vater den Abbruch von Kontakten des Kindes zu bisherigen Vertrauenspersonen und fördere umgekehrt ausschließlich den Kontakt zu solchen Personen, die die Sichtweise des Vaters teilen und ihre Informationen über die familiären Verhältnisse ausschließlich vom Vater erhalten. Diese Einschätzungen hat der Sachverständige A. außer an dem vollständigen Beziehungsabbruch des Kindes zu seiner Mutter und deren Familie auch an dem Verhältnis zum Verfahrensbeistand sowie der Verweigerung einer weiteren Begutachtung des Kindes durch die Sachverständige W. verdeutlicht.

Damit hat der Sachverständige ersichtlich nach seiner fachlichen Einschätzung konkrete Einwirkungen des Vaters auf das Kind beschrieben und Folgen daraus für dieses dargelegt. Die vom Sachverständigen angenommenen Folgen stehen mit dem Kindeswohl in Zusammenhang. Dieses fordert, das Kind darin zu unterstützen, zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 -, Rn. 28). Verhaltensweisen eines Elternteils, die darauf abzielen, dem Kind einseitig ein bestimmtes Bild der elterlichen beziehungsweise familiären Verhältnisse zu vermitteln und lediglich Kontakte des Kindes mit Personen zuzulassen, die die Positionen des beeinflussenden Elternteils vertreten, sind mit dem Ziel, dem Kind die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu ermöglichen, kaum zu vereinbaren. Das Oberlandesgericht war zwar auch insoweit nicht von Verfassungs wegen gehalten, der Einschätzung des Sachverständigen A. zu folgen.

Weicht es aber davon ab, bedarf es einer eingehenden Begründung, die auf zentrale Erwägungen des Sachverständigengutachtens eingeht. Daran fehlt es auch hinsichtlich der vom Sachverständigen A. angenommenen Zusammenhänge zwischen der Einflussnahme des Vaters auf das Kind und den Folgen für dessen Wohl.

Das gilt auch für weitere Ausführungen des Sachverständigen A. über kindeswohlgefährdende Verhaltensweisen des Vaters. So wird in dem Gutachten näher dargelegt, dass der Vater das Kind in einer nicht altersangemessenen Weise ganz erheblich in den Elternkonflikt einbezieht und diesem etwa im familiengerichtlichen Verfahren gewechselte Schriftsätze zu lesen gibt. Damit werde das Kind erheblich überfordert und dessen Loyalitätskonflikt verstärkt. Mit diesen für die Beurteilung des Kindeswohls bedeutsamen Umständen setzt sich das Oberlandesgericht nicht in erkennbarer Weise auseinander.

bb) Mit den näheren Ausführungen beider Sachverständiger zum Vorliegen eines induzierten und nicht mit dem Wohl des Kindes zu vereinbarenden Kindeswillens hat sich das Oberlandesgericht angesichts der Abweichung von beiden Gutachten ebenfalls nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise befasst. Es hat insbesondere nicht hinreichend erwogen, dass die in der Anhörung des Kindes gezeigten emotionalen Belastungen – wie bereits von der Sachverständigen W. in Zusammenhang mit der Frage der Beachtlichkeit des Kindeswillens ausgeführt – Folge von aus einem starken Loyalitätskonflikt herrührenden Schuldgefühlen des Kindes sein können. Aus den bereits dargelegten Gründen enthält die Beschwerdeentscheidung auch keine eingehende Begründung zu den dezidierten Ausführungen beider Sachverständiger, insbesondere des Sachverständigen A., zu einer Beeinflussung des Kindeswillens durch den Vater und eines Teils der dessen Position vertretenden Fachkräfte.

Zwar hat das Oberlandesgericht im verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt beanstandungsfrei angenommen, dass die Nichtberücksichtigung eines beeinflussten Kindeswillens dann gerechtfertigt ist, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes die wirklichen Bindungsverhältnisse nicht zutreffend bezeichnen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. April 2001 – 1 BvR 212/98 -, Rn. 4; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2015 – 1 BvR 3326/14 -, Rn. 17). Ein Kindeswille kann jedoch auch dann unbeachtlich sein, wenn dessen Befolgung seinerseits mit dem Kindeswohl nicht vereinbar ist und zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. März 2005 – 1 BvR 1986/04 -, Rn. 8 f.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. September 2006 – 1 BvR 1827/06 -, Rn. 14). Gerade davon sind beide Sachverständige ausgegangen. Dem hat das Oberlandesgericht, wie dargelegt, keine eingehenden Erwägungen entgegengestellt, die ein Abweichen von der diesbezüglichen Einschätzung der Sachverständigen verfassungsrechtlich tragfähig begründeten.

2. Der angegriffene Beschluss beruht auch auf dem aufgezeigten, verfassungsrechtlich bedeutsamen Begründungsmangel. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht bei erneuter Befassung unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßgaben zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.

IV.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung der Rechte ihres Kindes geltend macht. Hierzu war sie nicht berechtigt.

Mit Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung wurde die Übertragung des Sorgerechts auf den Kindesvater wirksam, so dass die Beschwerdeführerin nicht mehr Inhaberin der elterlichen Sorge und damit nicht gesetzliche Vertreterin des Kindes nach § 1629 BGB war. Es besteht auch kein Grund, eine Vertretung des Kindes im Verfassungsbeschwerdeverfahren durch einen nicht sorgeberechtigten Elternteil zuzulassen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Vertretung des Kindes durch den nicht sorgeberechtigten Elternteil nur im Ausnahmefall zugelassen (vgl. BVerfGE 72, 122 <136>; siehe dazu auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 15. Dezember 2020 – 1 BvR 1395/19 -, Rn. 29). Die dafür maßgeblichen Erwägungen liegen hier schon wegen der Interessenvertretung durch den Verfahrensbeistand nicht vor.

V.

Der Beschluss vom 2. Juli 2020 ist wegen der Verletzung des Elternrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Wegen der Aufhebung gilt bis zu einer anderweitigen Entscheidung im Ausgangsverfahren die im Beschluss des Familiengerichts vom 23. April 2020 getroffene Sorgerechtsregelung.

Die Anordnung der Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

BVerfG, Beschluss vom 14.04.2021
1 BvR 1839/20

Schreibe einen Kommentar