1. Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 20. März 2003 – 15 UF 264/02 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an einen anderen Familiensenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts zurückverwiesen.
2. Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu ersetzen.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
Die Beschwerdeführerin wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Oberlandesgerichts, mit der dieses die gemeinsame Sorge für das 1990 geborene und aus der Ehe der Beschwerdeführerin mit dem Antragsgegner des Ausgangsverfahrens hervorgegangene Kind wieder hergestellt hat.
Im Juni 2002 verurteilte das Amtsgericht den Antragsgegner unter anderem wegen Körperverletzung sowie versuchter Vergewaltigung zum Nachteil der Beschwerdeführerin zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 16 Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. In den Gründen des rechtskräftigen Urteils heißt es unter anderem, der Antragsgegner, der überwiegend geständig gewesen sei, habe die Beschwerdeführerin anlässlich eines Streits im Dezember 1999 ins Gesicht geschlagen und am Hals gewürgt. Die Handgreiflichkeiten hätten mehrere Stunden gedauert. Die Beschwerdeführerin habe Blutergüsse im Schulterbereich und an den Handgelenken sowie blaue Würgemale erlitten. Im Mai 2000 habe der Antragsgegner versucht, die Beschwerdeführerin zu vergewaltigen. Sie habe dies durch ihre Gegenwehr verhindern können, woraufhin der Antragsgegner der Beschwerdeführerin heftig ins Gesicht geschlagen habe. Sie habe eine Schädelprellung, eine Schulterprellung, eine Unterarmprellung und multiple Blutergüsse erlitten. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht straferschwerend die “erheblich lang andauernde Gewaltanwendung” in beiden Fällen sowie die Verletzungen der Beschwerdeführerin. Diese habe sich aufgrund der Taten in psychologische Behandlung begeben müssen, die noch heute (bei Urteilserlass) andauere. Außerdem habe sie unter Brechreiz und Schlafstörungen gelitten.
Im Oktober 2002 schied das Familiengericht die Ehe der Beteiligten auf Antrag der Beschwerdeführerin und übertrug ihr die elterliche Sorge für das bei ihr lebende Kind. Die Misshandlungen habe die Beschwerdeführerin trotz Behandlung noch nicht überwunden. Sie lehne deshalb nachvollziehbar und begründet den Kontakt zu dem Antragsgegner ab. Der Beschwerdeführerin sei nicht zumutbar, mit diesem über Sorgerechtsfragen zu kommunizieren. Auch nach Anhörung des Kindes stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die alleinige Sorgetragung der Mutter dem Kindeswohl am besten entspreche.
Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss hob das Oberlandesgericht die Sorgerechtsregelung auf, ohne den zuvor gestellten Antrag der – zur mündlichen Verhandlung nicht erschienenen – Beschwerdeführerin auf getrennte Anhörung beschieden zu haben. Zwischen den Eltern bestünde offenkundig Grundkonsens in den wesentlichen, den Sohn betreffenden Fragen. Die abstrakte Befürchtung der Beschwerdeführerin, es könne künftig in Fragen der elterlichen Sorge auch einmal konträre Positionen geben, rechtfertige die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht. In den wenigen denkbaren Fällen erscheine eine Kommunikation zwischen den Eltern objektiv – zumindest schriftlich oder per E-Mail – möglich. Der Senat verkenne dabei nicht, dass die Weigerung der Beschwerdeführerin, mit dem Antragsgegner zu kommunizieren, auf den ihr von ihm zugefügten körperlichen und seelischen Verletzungen beruhe. Dies habe sie allerdings auch nicht gehindert, ihn in finanziellen Fragen zu “kontaktieren”. Es stelle sich die Frage, “ob – unabhängig vom Verschulden – bei einseitiger Kommunikationsstörung die Erziehungsfähigkeit des nicht kooperationsfähigen Elternteils tangiert ist”.
Mit der hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte unter anderem aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
Der Regierung des Landes Brandenburg sowie dem Antragsgegner wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, wovon der Antragsgegner Gebrauch gemacht hat.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum Sorgerecht (vgl. BVerfGE 31, 194 <204 f.>; 61, 358 <371 f.>; 75, 201 <218 f.>; 84, 168 <180>; 92, 158 <178 f.>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 29. Januar 2003 – 1 BvL 20/99, 1 BvR 933/01 -; abgedruckt in FamRZ 2003, S. 285 <287 ff.>) und zum Grundrechtsschutz durch die Ausgestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts (vgl. BVerfGE 53, 30 <65>; 55, 171 <182>) sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits beantwortet.
1. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
a) aa) Das den Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gegenüber dem Staat gewährleistete Freiheitsrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder dient in erster Linie dem Kindeswohl, das zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist (vgl. BVerfGE 61, 358 <371 f.>; 75, 201 <218 f.>). Der Schutz des Elternrechts, der dem Vater und der Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 29. Januar 2003, a.a.O., S. 288). Dabei setzt die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus, erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen und hat sich am Kindeswohl auszurichten. Insbesondere auch für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der Sorge fehlen, bedarf das Elternrecht der gesetzlichen Ausgestaltung (vgl. BVerfGE 92, 158 <178 f.>; vgl. auch BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 29. Januar 2003, a.a.O., S. 287). Dem dient § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB, der bestimmt, dass einem Elternteil auf Antrag die elterliche Sorge allein zu übertragen ist, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Dabei ist es von Verfassungs wegen nicht geboten, der gemeinsamen Sorge gegenüber der alleinigen Sorge einen Vorrang einzuräumen; ein solcher findet sich auch nicht in der Regelung des § 1671 BGB wieder (vgl. BTDrucks 13/4899, S. 63; vgl. auch BGH, FamRZ 1999, S. 1646 <1647>). Genauso wenig kann vermutet werden, dass die gemeinsame Sorge nach der Trennung der Eltern im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung sei (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 29. Januar 2003, a.a.O., S. 291; vgl. auch BTDrucks 13/4899, S. 63; BGH, FamRZ 1999, S. 1646 <1647>).
bb) Der Grundrechtsschutz beeinflusst auch weitgehend die Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts (BVerfGE 53, 30 <65>; 55, 171 <182>). Das Verfahren muss grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>).
b) Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Entscheidung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar. Das Oberlandesgericht hat das Elternrecht der Beschwerdeführerin grundlegend verkannt. Es hat nicht hinreichend beachtet, welche Anforderungen Art. 6 Abs. 2 GG an die Ausübung der gemeinsamen Sorge (aa) und an die Ausgestaltung des Verfahrens stellt (bb).
aa) Das Oberlandesgericht hat verkannt, dass die Ausübung der gemeinsamen Sorge eine tragfähige soziale Beziehung der Eltern voraussetzt. Daher hat es sich auch nicht mit der naheliegenden Frage befasst, ob bei den vorliegenden Begebenheiten eine Verständigung der Eltern über wichtige Sorgerechtsfragen überhaupt noch in einer Art und Weise möglich ist, die auch bei einem Dissens der Eltern eine dem Kindeswohl dienliche Entscheidung gewährleisten würde. Spätestens nachdem die Beschwerdeführerin ein Attest ihrer Psychiaterin vorgelegt hatte, wonach jede Begegnung mit dem Antragsgegner bei ihr mit einer starken Angst vor erneuten Gewalttätigkeiten einhergeht, hätte sich der Senat eingehend mit der Frage auseinander setzen müssen, ob die Beziehung der Eltern für eine gemeinsame Sorgetragung noch tragfähig ist. Stattdessen hat er sich auf die in diesem Zusammenhang zumindest befremdlich wirkende Feststellung beschränkt, dass die Verletzungen die Beschwerdeführerin nicht daran gehindert hätten, mit dem Antragsgegner in finanziellen Fragen in Kontakt zu treten. Wie sich den Ausgangsakten entnehmen lässt, ging es dabei um Schmerzensgeld wegen der begangenen Taten beziehungsweise um Kindesunterhalt. Nicht nachvollziehbar ist zudem die Erwägung des Senats, dass die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin in Frage gestellt wäre, sollte sie aufgrund der Misshandlungen ihre Fähigkeit, mit dem Antragsgegner zu kommunizieren, eingebüßt haben.
bb) Daneben ist das vom Oberlandesgericht durchgeführte Verfahren nicht geeignet gewesen, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Der Senat hat nur einen Elternteil, und zwar den Antragsgegner, persönlich angehört. Vor allem das Ergebnis dieser Anhörung hat das Gericht ersichtlich zu der Feststellung bewogen, dass zwischen den Eltern “offenkundig” Grundkonsens in den wesentlichen Sorgerechtsfragen bestehe. Wie der Anordnung ihres persönlichen Erscheinens zu entnehmen ist, sah es der Senat indes zunächst selbst als notwendig an, sich einen persönlichen Eindruck auch von der Beschwerdeführerin zu verschaffen. Dies wäre angesichts der besonderen Umstände des Falles auch erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, ob zwischen den Eltern überhaupt noch eine tragfähige soziale Beziehung besteht. Zu einer persönlichen Anhörung der Beschwerdeführerin hätte auch deswegen Veranlassung bestanden, weil das Oberlandesgericht die zu ihren Gunsten ausgefallene Entscheidung des Familiengerichts, das seinerseits die Beschwerdeführerin – getrennt von dem Antragsgegner – persönlich angehört hatte, aufgehoben hat (vgl. Engelhardt, in: Keidel/ Kuntze/Winkler, FGG, 15. Aufl., § 50 a Rz. 17 ff.; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. November 1993 – 1 BvR 1045/93 -, NJW 1994, S. 1208 <1209 f.>). Statt aber ihren bereits mit der Beschwerdeerwiderung und unter Bezugnahme auf das Attest ihrer Psychiaterin gestellten Antrag auf getrennte Anhörung zu bescheiden, hat sich das Oberlandesgericht die Verhängung von Ordnungsmitteln gegen die im Termin ausgebliebene Beschwerdeführerin vorbehalten und am Ende der Sitzung die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung verkündet.
c) Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei Beachtung der sich aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
2. Da die Entscheidung somit schon wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aufzuheben ist, bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob die Beschwerdeführerin auch in den übrigen von ihr geltend gemachten Rechten, insbesondere in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren, verletzt ist.
3. Die Entscheidung ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen, wobei es angezeigt erscheint, die Sache an einen anderen Familiensenat zurückzuverweisen.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
BVerfG, Beschluss vom 18.12.2003
1 BvR 1140/03