Benachrichtigungen
Alles löschen

Vernachlässigte Kinder - Zu Tode gespart

 
(@brille007)
(Fast) Eigentumsrecht Registriert

Ein interessantes Interview findet sich heute auf spiegel.de

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,442513,00.html

-------------------------------------------------------------------

VERNACHLÄSSIGTE KINDER
Zu Tode gespart

Mit einem Frühwarnsystem will die Bundesregierung die Vernachlässigung von Kindern stoppen. Der Leiter des christlichen Kinder- und Jugendwerks Die Arche, Bernd Siggelkow, hält davon wenig. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview beklagt er den gefährlichen Sparkurs an den Kindern.

SPIEGEL ONLINE: Herr Siggelkow, nach dem Tod des zweijährigen Kevin in Bremen will Familienministerin Ursula von der Leyen ein Frühwarnsystem einrichten, um die Vernachlässigung von Kindern zu verhindern. Familien sollen stärkere Begleitung von den Ämtern bekommen, die Aktivitäten der Behörden sollen besser koordiniert werden. Was können solche Maßnahmen bewirken?

Pastor Siggelkow: "Wir haben den Menschen nicht mehr im Blick"
Siggelkow: Dieses Frühwarnsystem ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dass wir auf Grund der vielen Verwahrlosungen, die wir im Moment in Deutschland aufecken, dringend etwas unternehmen müssen, ist klar. Meiner Meinung aber wird das Frühwarnsystem nicht viel bringen.

SPIEGEL ONLINE: Warum? Was wäre die richtige Antwort auf Fälle wie den in Bremen gestorbenen Kevin?

Siggelkow: Das Bewusstsein, dass unsere Kinder die beste Unterstützung brauchen, die es überhaupt gibt, muss in Politik und Gesellschaft gestützt werden. Es passiert aber das Gegenteil: Immer mehr Einrichtungen werden geschlossen, wir sparen an Heimplätzen, an Jugendhilfemaßnahmen - wir sparen letzten Endes an unseren Kindern. Ändert sich an dieser Situation nichts, wird auch die Zahl der überforderten Eltern steigen. Diese Väter und Mütter geben den Druck an ihre Kinder weiter - das kann bis zum Tod gehen wie jetzt im Fall von Kevin in Bremen.

SPIEGEL ONLINE: Eine bessere Vernetzung der Behörden und eine aufmerksamere Beobachtung auffälliger Familien, wie es das Frühwarnsystem vorsieht, kann dabei nicht helfen?

Siggelkow: Kaum. Denn entscheidend ist, wer die Familien beobachtet. Die Mitarbeiter des Jugendamts sind damit vollkommen überfordert. Wenn auf einen Jugendamtsbetreuer 50 Kinder kommen, kann er keine individuelle Hilfe mehr leisten. Zusätzlich gibt es immer weniger Kinderfreizeitseinrichtungen, in denen das Verhalten der Kinder außerhalb des schulischen Rahmens beobachtet werden können. Im Freizeitverhalten aber spiegelt sich wieder, was zu Hause in den Familien los ist - wie es den Kindern dort geht. In der Schule hingegen sind die Kinder zum Lernen. Dort wird mehr auf Noten geachtet, als auf das Verhalten. Der Erfolg der Arbeit von Einrichtungen wie der Arche hängt damit zusammen, dass wir aus dem Freizeitverhalten der Kinder Schlüsse über die Familie ziehen können und bei Hausbesuchen dann Veränderungen bewirken können.

SPIEGEL ONLINE: Inwiefern Veränderungen? Wann reicht der intensive Kontakt mit der Familie und wann müssen Behörden eingeschaltet werden?

Siggelkow: Vielen Familien fehlen heute sehr stark die Vertrauenspersonen. Die Kinder, bei denen Misshandlungen und Verwahrlosungen aufgedeckt wurden, kamen alle aus bestimmten Schichten. Schichten, in denen Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe bezogen wird. Jetzt gibt es das alte Sozialhilfesystem nicht mehr und die Arbeitsagenturen sind in vielen Fällen hoffnungslos überfordert. Sie haben zwar noch einen Sozialpädagogen da, aber die Familien haben sehr wenig Vertrauen zu ihnen. Sie müssten sich vollkommen fremden Menschen gegenüber öffnen. Aber Menschen fassen dort zuerst Vertrauen, wo das Vertrauen schon liegt - also bei Einrichtungen, in denen ihre Kinder schon Hilfe bekommen haben. Wir merken: Wenn Kinder zu uns kommen, kommen auch früher oder später die Eltern. Dann machen wir Hausbesuche. Es sind häufig Kleinigkeiten, die in den Familien falsch laufen, die aber eine große Auswirkung auf die Familie haben. Aber es sind auch Kinder in unserer Einrichtung, die eindeutig misshandelt wurden - die etwa blaue Flecke haben. Wir hatten ein Kind, das Brandmale von ausgedrückten Zigaretten auf dem Körper hatte.

SPIEGEL ONLINE: Ein Fall für das Jugendamt?

Siggelkow: Wenn man das Jugendamt einschaltet, läuft es wie folgt: Die Mitarbeiter melden sich bei der Familie an, die Wohnung wird aufgeräumt und augenscheinlich ist dann kein Problem mehr da. Also kann man auch kein Problem behandeln. Wenn aber regelmäßig Vertrauenspersonen in der Familie vor Ort sind, lässt sich auch etwas verändern.

SPIEGEL ONLINE: Kevin war erst zwei Jahre alt und zu jung, um in Freizeiteinrichtungen, Kindergarten oder Schule zu gehen, wo Vernachlässigungen aufgefallen wären. Wer hatte in diesem Fall Schuld?

Siggelkow: Schuld ist unser System, das sagt, wir müssen überall sparen. Wir sparen so, dass wir den Menschen nicht mehr im Blick haben. Im Fall von Kevin war es tatsächlich so, dass man gesagt hat, ein Heimaufenthalt oder eine ambulante Betreuung sei zu teuer. Deshalb wurde Kevin zurück nach Hause geschickt. Das ist der falsche Weg. Der Vater hätte Hilfe in seiner Lebenssituation gebraucht und das Kind hätte in der betreuenden Einrichtung bleiben müssen. Jemand, der nicht mit seinem Leben klarkommt, schafft es nicht, sich um ein Kind zu kümmern.

SPIEGEL ONLINE: Sie sprachen gerade von blauen Flecken und Brandmalen. Wo liegt die Grenze? Wann muss ein Kind weg von seiner Familie?

Siggelkow: Die Grenze ist da, wo die Kinder leiden müssen - psychisch oder körperlich. Dann muss es sofort Veränderungen geben - das heißt aber nicht immer, dass das Kind aus der Familie weg muss. Manchmal reicht es auch, wenn Kinder und Eltern einen festen Ansprechpartner haben, dem sie vertrauen und der sie begleitet. Viele Eltern sind mit ihren Kindern komplett überfordert. Das ist auch eine Folge davon, dass sich die Familienstrukturen in Deutschland verändert haben. Immer mehr Menschen ziehen in die Großstädte, Familienbande - Großvater und Tante - gibt es nicht und die Mütter und Väter sind oft vollkommen allein gelassen. Daran muss etwas geändert werden.

Das Interview führte Anna Reimann

When a mosquito lands on your testicles you realize that there is always a way to solve problems without using violence.

Zitat
Themenstarter Geschrieben : 14.10.2006 23:59